Wohlstand für Alle: Folge 317: Wie Hamilton die USA (fast) modernisierte
Zwei Journalisten erzählen unterhaltsam, warum die USA erst durch Schulden, Banken und Sklaverei zur führenden Kapitalismusmacht wurden.
Wohlstand für Alle
44 min read2072 min audioOle Nymoen und Wolfgang M. Schmitt rekonstruieren in der zweiten Folge ihrer US-Wirtschaftsgeschichte, wie aus dem bäuerlich geprägten Nordamerika des späten 18. Jahrhunderts eine kapitalistische Großmacht werden konnte. Im Zentrum steht der Konflikt zwischen Alexander Hamilton, der mit einer Zentralbank, refinanzierten Schulden und einem starken Finanzsektor die Modernisierung vorantrieb, und Thomas Jefferson, der weiße Farmer:innen als eigenständige „auserwählte“ Produzenten ohne industrielle Abhängigkeit wollte. Die Episode zeigt, dass die USA ihre heutige Finanzarchitektur (Dollar, Wall Street) nicht mit der Unabhängigkeit mitbekamen, sondern durch kontroverse Debatten, Sklavenhaltung, Landraub und massive Ungleichzeitigkeiten. Besonders deutlich wird, dass „Freiheit“ damals ausschließlich weißen männlichen Grundeigentümern galt, während Frauen, versklavte Menschen und indigene Bevölkerung weiter unterdrückt wurden.
### 1. Hamiltons Finanzrevolution: Schulden als „National Blessing“
Die künftige Großmacht verdankt sich laut Nymoen/Schmitt Hamiltons Strategie, Kriegsschulden nicht abzutragen, sondern in unbefristete, verzinsliche Bundesanleihen zu verwandeln: „Er bezeichnete sie als National Blessing, also als Segen für das Land.“ Damit entstand ein liquider Markt für Staatspapiere und internationales Anlegervertrauen.
### 2. Die First Bank of the United States – Vorläufer der Fed
Schon 1791 gründete Hamilton eine halb-private Zentralbank mit 10 Mio. Dollar Grundkapital; 80 % stammten von privaten Aktionären. Laut Phil Davies fungierte sie als „finanzielles Bollwerk für die Bundesregierung“, verlieh Kredite, sammelte Steuern und schuf so ein landesweites Bankennetz.
### 3. Jeffersons anti-kapitalistische Vision: Bäuerliche Selbstständigkeit statt Industrie
Jefferson hielt Lohnarbeit und Manufakturen für europäische Fehlentwicklungen: „diejenigen, die die Erde bewirtschaften, sind das auserwählte Volk Gottes … niemals wünschen, dass unsere Bürger an einer Werkbank sitzen.“ Stattdessen forderte er stetige westliche Expansion, um möglichst vielen weißen Farmern eigenes Land zu sichern.
### 4. „Freiheit“ nur für weiße männliche Grundeigentümer
Etwa zwei Drittel der weißen Bevölkerung besaßen Land, durften wählen und besteuert wurden kaum. Alle anderen – Frauen, Kinder, versklavte Menschen, Vertragsknechte („indentured servants“) und indigene Völker – blieben abhängig oder wurden enteignet. Die durchschnittliche Farm umfasste 125 Acres, 25-mal mehr als zur Subsistenz nötig; Sklaven galten als zusätzliche „Köpfe“ für mehr Landanspruch.
### 5. Ungleiche politische Macht: Sklavenhaltende Südstaaten überrepräsentiert
Bei Wahlen zählte jeder Sklave zu 3/5 eines Wahlmannes, ohne Stimme zu besitzen. Da Jeffersons Basis aus genau diesen Farmern bestand, konnte er trotz seiner ablehnenden Haltung gegenüber Hamiltons Zentralisierung Präsident werden und den Föderalismus „in einen Abgrund stoßen“.
### 6. Kapitalistische Strukturen kamen nur bruchstückhaft voran
Obwohl Hamiltons Reformen (Bank, Schuldenmarkt, Außenhandel) die Grundlage für spätere Industrialisierung legten, blieben Produktionsverhältnisse lange vor-industriell: Farmer erzeugten primär für den Eigenbedarf, erst danach für den Markt. Protektionistische Maßnahmen unter Jefferson verzögerten Importe britischer Fertigwaren und hemmten so die Ausbreitung von Manufakturen.
## Einordnung
Die Episode präsentiert sich als entspanntes, aber fundiertes Gesprächsformat: Die beiden Moderatoren bauen komplexe wirtschaftshistorische Zusammenhänge schlüssig herunter, zitieren Historiker:innen und Statistiken, ohne akademisch zu klingen. Besonders gelungen ist die kritische Selbstverständlichkeit, mit der sie Sklaverei, Landraub und geschlechtsspezifische Abhängigkeiten benennen – Aspekte, die in populären Erzählungen vom „American Dream“ oft verschwinden. Gleichzeitig bleibt der Fokus klar auf der ökonomischen Argumentationsebene; politische Bewertungen beschränken sich auf ironische Seitenhiebe (z. B. „bereits vor 200 Jahren weiter als Christian Lindner heute“). Die lockeren Dialoge, Anekdoten über Musicals oder Baseball stören nicht, sondern humanisieren die Figuren und halten die Länge erträglich. Insgesamt liefert „Wohlstand für Alle“ eine unterhaltsame, aber analytisch scharfe Einführung in die Frage, warum die USA erst durch Schulden, Banken und Ausbeutung zur führenden Kapitalismusmacht wurden – und nicht durch unbegrenzte Freiheit.