Der Deutschlandfunk-Podcast „Der Rest ist Geschichte“ widmet sich in der Folge „Bis 2030 soll jeder Mensch in der EU ein Dach über dem Kopf haben“ der historischen Entwicklung von Obdachlosigkeit in Deutschland vom Kaiserreich bis heute. Moderator:in Antran und die Historiker:innen Britta Marie Schenk und Julia Hörath zeichnen nach, wie Obdachlosigkeit seit dem 19. Jahrhundert als „selbstverschuldet“ stigmatisiert, kriminalisiert und mit Repressionen beantwortet wurde – von der Strafbarkeit im Kaiserreich über NS-Zwangsarbeit und -KZs bis hin zur „defensiven Architektur“ in der Gegenwart. Kernthese: Trotz wachsender Sozialstaatlichkeit bleibt der Mangel an preiswertem Wohnraum und die Zuschreibung persönlicher Schuld eine Konstante. Die EU-Zielsetzung, bis 2030 Obdachlosigkeit abzuschaffen, wird als illusionistisch eingestuft; stattdessen werde sichtbare Armut versteckt (Musikbeschallung, Pollern, Wasserspeier). Die Episode endet mit dem Appell, Obdachlosen einfach Wohnungen zu geben. ### 1. Obdachlosigkeit wurde früh kriminalisiert und mit Arbeitshäusern beantwortet Schenk erklärt, dass schon das Kaiserreich umherziehende Arme per § 361 StGB als Landstreicher:innen bestrafen ließ: „Man konnte auch verhaftet werden und inhaftiert werden … drohte eine Zwangseinweisung in ein Arbeitshaus“. Die Zwangsarbeit sollte „Arbeitsdisziplin“ vermitteln; die Dauer bestimmten Gerichte, nicht die Betroffenen. ### 2. Fabriksgründungen könnten Obdachlosigkeit auslösen Neue Industriearbeit führte nicht selten zur Wohnungslosigkeit. In Aschersleben zogen 3.000 Arbeiter:innen in eine neue Fabrik, „aber sie haben oftmals keine Wohnung erhalten … in Scheunen oder Ställen untergebracht“. Auch beim Bau des Kaiser-Wilhelm-Kanals seien Familien trotz Erwerbsarbeit obdachlos geworden, weil der Wohnungsmarkt versagte. ### 3. Obdachlose organisierten Selbsthilfe und protestierten gegen Räumungen 1871 errichteten betroffene Familien in Berlin Barackensiedlungen; die größte lag am Kotbusser Tor. Nach der gewaltsamen Räumung 1872 („Blumenstraßenkrawalle“) kam es zu Barrikadenkämpfen. Die Folge: ein Jahr später eröffnete die Stadt ein Asyl mit Familienabteilung – ein frühes Beispiel dafür, dass Widerum sichtbarer Armut soziale Reaktionen provozieren kann. ### 4. Der Begriff „Asozial“ diente von Weimar bis DDR der Ausgrenzung In den 1920er Jahren wurde „Asozialität“ auf Bettler:innen und Landstreicher:innen übertragen, obwohl diese Gruppe rückläufig war. Die NS-Regierung nutzte das Etikett zur Legitimation von Zwangslagern und Zwangssterilisationen; in der DDR überlebte das Konzept als „asoziale Lebensweise“ bis 1990. Hörath betont, bereits die Weimarer Wohlfahrtspflege habe autoritär gewendet und Menschen statt Armut deren Verhalten bekämpft. ### 5. „Zero Tolerance“ und defensive Architektur verstecken heute sichtbare Armut Seit den 1970er Jahren sei Obdachlosigkeit entkriminalisiert, wodurch Betroffene sichtbarer in Fußgängerzonen wurden. Stadtmarketing, Tourismus und Bürger:innenbeschwerden förderten Maßnahmen wie entfernte Bänklehnen, Klassik-Beschallung oder Wasserspeier. Schenk sieht darin die Kontinuität, „dass Unterstützungsleistungen … sehr schwierig zu erlangen“ seien und struktureller Mangel an preiswem Wohnraum fortbesteht. ## Einordnung Der Podcast arbeitet mit professionellem Anspruch: Historische Fakten werden durch Interviews mit Expert:innen und Archivmaterial belegt, Querverbindungen zwischen Kaiserreich, NS-Diktatur und Gegenwart werden klar hergestellt. Die Erzählweise bleibt journalistisch stringent, ohne billige Effekte. Besonders wertvoll ist, dass die Sprecher:innen Obdachlosigkeit nicht als individuelles Schicksal, sondern als gesellschaftlich produziertes Phänomen analysieren und dabei machtkritische Perspektiven (Repression, Kontrollbedürfnis, städtische Ökonomien) einnehmen. Kritikwürdig ist, dass aktuelle Betroffene kaum zu Wort kommen und Lösungsansätze auf die Wohnraumfrage verkürzt bleiben; dennoch gelingt eine historisch reflektierte Dekonstruktion des Selbstverschuldungstopos, die zuhören lohnt. Hörwarnung: Wer nur schnelle Tipps sucht, ist hier falsch; wer aber verstehen will, warum Obdachlosigkeit trotz Sozialstaat und EU-Ziel bis 2030 anhält, erhält eine fundierte historische Perspektive.