Der brasilianische Podcast „O Assunto“ begleitet in dieser Episode den vierten Verhandlungstag vor dem Supreme Federal Court (STF), in dem Ex-Präsident Jair Bolsonaro wegen versuchter Staatsstreich- und Demokratieabbau-Vorwürfen angeklagt ist. Reporter Reynaldo Turollo Jr. (g1) schildert, wie Richter Luiz Fux in seiner 13-stündigen Erklärung Bolsonaro von allen fünf Anklagepunkten freisprach, Mauro Cid – Bolsonaros früheren Assistenten – jedoch wegen „versuchter gewaltsamer Abschaffung des Rechtsstaats“ verurteilte. Fux hält das Gericht für inkompetent, weil kein Angeklagter über Sonderforo verfüge, spricht sich für Verfahrensannullierung aus und argumentiert, es fehlen Beweise für eine kriminelle Organisation, konkrete Aufträge zum 8. Januar 2023 oder unmittelbare Ausführungshandlungen eines Putsches. Rechtsexperte Oscar Vilhena (FGV-SP) kritisiert Fux’ Wende als inkonsistent: Der Richter ignoriere die Versuchsqualifikation der Straftatbestände (Art. 359 L/M StGB), selektiere Beweise und behandle dieselben Taten als bloß vorbereitend, obwohl Vorbereitung und Ausführung laut Gesetz strafverschärfend unterschieden seien. Die Diskussion zeigt, wie brisant die brasilianische Debatte über Demokratieschutz, Kompetenzfragen und juristische Auslegung ist. ### 1. Richter Fux spricht Bolsonaro von allen Anklagepunkten frei Fux halte es für erwiesen, dass „nicht ausreicht, die bloße Existenz eines kriminellen Plans zu belegen, um die Bildung einer kriminellen Organisation zu konstatieren“, wie Turollo resümiert. Bolsonaro habe weder eine bewaffnete Gruppe geleitet noch konkrete Befehle für die Randale am 8. Januar erteilt. Zitate Fux: „Es gibt keinen Beweis, dass die Angeklagten die Zerstörung angeordnet und sich dann gedrückt haben“ bzw. „Es gibt keine ausreichenden Beweise, Jair Messias Bolsonaro die Straftaten der versuchten gewaltsamen Abschaffung des demokratischen Rechtsstaats zuzuordnen.“ ### 2. Fux beansprucht fehlende Gerichtszuständigkeit und will das Verfahren annullieren Der Richter stimme drei prozessuale Einwänden der Verteidigung zu: Erstens sei das STF inkompetent, weil kein Angeklagter über Sonderforo verfüge; zweitens gehöre der Fall ins Plenum oder in die erste Instanz; drittens habe es einen „Tsunami an Daten“ gegeben, der die Verteidigungsrechte verletze. Turollo zitiert Fux: „Wir stehen vor einer absoluten Unzuständigkeit, die unmöglich als dem Verfahren innewohnender Mangel übergangen werden kann.“ ### 3. Experte Vilhena moniert massive juristische Inkonsistenz Vilhena betone, Fux lege zwar eine „außerordentlich lange und gelehrte“ theoretische Einleitung vor, doch fehle die Verbindung zur faktenbezogenen Analyse. Er konstatiere „Dichotomie“: „Er verurteilt Mauro Cid nachdrücklich, sagt mehrfach, Cid habe ohne das Vertrauen seines Chefs nicht handeln können, spricht jedoch dessen Chef frei.“ Das sei „Fux gegen Fux“. ### 4. Versuchsstrafrecht wird ignoriert Fux behandle die zentralen Tatbestände „nicht als versuchte Straftaten“, bemängelt Vilhena. Beide Paragrafen (359 L/M) beginnen mit „versuchen“, weshalb bereits Vorbereitungshandlungen strafbar seien. Fux verlange dagegen eine „unmittelbar der Vollendung vorausgehende“ Handlung – etwa die Unterzeichnung eines Dekrets –, was angesichts der dokumentierten Planungen (Gespräche mit Militärs, Entwurf für GLO) nicht überzeugend sei. ### 5. Beweise werden selektiv gewertet Vilhena wirft Fux vor, Beweise systematisch auszublenden: „Er wählte aus, bestimmte Beweise zu beachten, andere ignorierte er vollständig.“ Belege, die eine „mittelbare, einfache Schlussfolgerung“ über Bolsonaros Einfluss nahelegten, würden als bloße „Induktion“ abgetan, während dieselben Indizien gegen Cid als ausreichend für strafbare Ausführungshandlungen gelten. ### 6. Politische Signalwirkung trotz vorläufigem Verhältnis 2:1 für Verurteilung Zwar stehe es aktuell 2:1 für eine Verurteilung, doch erzeuge Fux’ Votum ein gefährliches Signal: Es lege ein „Präzedenz“ für künftige Demokratiefeinde, da es Versuchs- und Organisationsdelikte naturalisiere. Zudem entkräfte es die These, dass im Gericht „niemand gegen den Berichterstatter Moraes stimmen“ dürfe – was zugleich die Selbstständigkeit des Gerichts unterstreiche. ## Einordnung Die Sendung liefert eine schnelle, klare Analyse komplexer juristischer Fragen, bleibt dabei aber journalistisch professionell. Die Moderation verzichtet auf überzogene Dramatik, lässt Reporter und Experten ausführlich zu Wort kommen und stellt Nachfragen, die Zusammenhänge strukturiert aufschlüsseln. Besonders hervorzuheben ist die transparente Aufarbeitung der Widersprüche im Votum von Richter Fux: Die Episode zeigt, wie brisant brasilianische Debatten über Demokratieschutz, Kompetenzfragen und Auslegung des Versuchsstrafrechts sind, ohne dabei in parteipolitische Wertung zu verfallen. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Entscheidung des Gerichts weit über den Einzelfall hinaus Signalwirkung für künftige Machtspiele entfalten kann. Die journalistische Leistung besteht darin, diese Tragweite nüchtern, faktenbasiert und für Nicht-Jurist:innen verständlich zu vermitteln. Hörwarnung: Wer sich für brasilianische Politik, Verfassungsrecht oder die Rolle von Gerichten in jungen Demokratien interessiert, erhält hier einen fundierten, wenn auch technisch anspruchsvollen Einblick; für Hörer:innen ohne entsprechende Vorerfahrung kann die Detailtiefe anstrengend wirken.