11KM: der tagesschau-Podcast: Selenskyj unter Druck: Was steckt hinter den Protesten in der Ukraine

ARD-Korrespondentin Rebecca Barth erklärt die größten Proteste in der Ukraine seit Kriegsbeginn gegen Selenskyjs umstrittenes Antikorruptionsgesetz.

11KM: der tagesschau-Podcast
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Rebecca Barth aus dem ARD-Studio Kiew berichtet über die größten Proteste in der Ukraine seit Kriegsbeginn. Tausende Menschen gehen gegen ein Gesetz auf die Straße, das unabhängige Antikorruptionsbehörden dem Generalstaatsanwalt - und damit indirekt Präsident Selenskyj - unterstellt. Die Demonstrierenden treffen sich abends auf dem Ivan-Franco-Platz mit Sicht auf das Präsidialamt und rufen "Schande" sowie "Veto gegen das Gesetz". Besonders junge Menschen zwischen 16 und 25 Jahren prägen die Proteste. ### Selenskyj habe trotz Protesten ein umstrittenes Antikorruptionsgesetz unterzeichnet Das ukrainische Parlament verabschiedete im Schnellverfahren ein Gesetz, das unabhängige Antikorruptionsinstitutionen "de facto dem Generalstaatsanwalt" unterstellt, der vom Präsidenten ernannt werde. Dadurch könne "Selenskyj direkten Einfluss auf Ermittlungen nehmen", so Barth. Die Demonstrierenden hätten gehofft, der Präsident lege sein Veto ein: "Sie rufen Veto gegen das Gesetz, Veto gegen das Gesetz und haben abends in Sichtweite des Präsidialamtes demonstriert." Selenskyj habe dennoch unterschrieben, woraufhin "am nächsten Tag nochmal viel mehr Menschen auf die Straßen gegangen" seien. ### Die Proteste würden an die Maidan-Revolution von 2013/14 anknüpfen Die aktuellen Demonstrationen stünden in der Tradition der Maidan-Revolution, bei der es um "Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, wirkliche Korruptionsbekämpfung und vor allem die europäische Perspektive" gegangen sei. Aus diesen Protesten seien 2015 die nun bedrohten unabhängigen Antikorruptionsinstitutionen entstanden: "das NABU, das Nationale Antikorruptionsbüro und die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung". Eine Aktivistin erkläre die Motivation: "Irgendwo in uns gibt es dieses ganz krasse Streben nach Freiheit. Und das ist so tief in unserer Identität verwurzelt." ### Korruption gefährde auch Soldaten an der Front Korruption habe in der Ukraine "ganz tief verwurzelte" Ursachen seit dem Sowjetzerfall und betreffe auch Kriegsgüter. Ein Demonstrant, dessen Vater Soldat ist, rechne vor: "Wenn wir zehn Drohnen kaufen können für eine gewisse Summe und weil aber Menschen korrupt sind, wir dann nur acht bekommen, dann bedeutet das, dass zwei russische Soldaten durchkommen und auf unsere Position und dann sterben wir." Viele Menschen machten die Rechnung auf, dass "Korruption tötet, aber Korruption tötet im Krieg noch viel schneller". ### Selenskyj begründe das Gesetz mit russischer Infiltration Selenskyj und seine Regierung argumentierten, das Antikorruptionsbüro müsse "gereinigt werden von russischem Einfluss, von russischen Agenten". Tatsächlich habe es "Razzien des Geheimdienstes SBU" bei "70 verschiedenen Mitgliedern" der Behörde gegeben, mindestens eine Person stehe "im Verdacht, für Russland gearbeitet zu haben". Kritiker:innen wenden ein: "Selbst wenn es diese Probleme gibt, dann löst du sie nicht, indem du die Unabhängigkeit von diesen Strukturen praktisch auflöst." ### Die Proteste könnten die Kriegsmoral beeinträchtigen Eine Demonstrantin berichte, ihr Mann an der Front stehe "total unter Schock und wisse überhaupt nicht mehr, wofür er da überhaupt kämpft". Die Moral der Truppe sei "eh nicht so gut", es fehle "Personal" und "Waffen", die Russen hätten "einen Vorteil". Dann komme "der Präsident und nimmt eine Errungenschaft weg, für die sich sehr viele Menschen über zehn Jahre engagiert haben" - ein "hausgemachtes Problem und vollkommen unnötig". ## Einordnung Rebecca Barths Reportage aus Kiew liefert eine differenzierte Einordnung der aktuellen Proteste in ihren historischen und gesellschaftlichen Kontext. Die Korrespondentin vermeidet oberflächliche Berichterstattung und erklärt komplexe Zusammenhänge zwischen Korruptionsbekämpfung, ukrainischer Identität und Kriegssituation nachvollziehbar. Besonders wertvoll sind die direkten Gespräche mit Demonstrierenden, die persönliche Motivationen und gesellschaftliche Dynamiken greifbar machen. Die Analyse zeigt auf, wie das umstrittene Gesetz nicht nur institutionelle Errungenschaften der Maidan-Revolution bedroht, sondern auch die Kriegsmoral gefährden könnte - ein Aspekt, der in der internationalen Berichterstattung oft unterbelichtet bleibt. Barth ordnet Selenskyjs Begründung (russische Infiltration) sachlich ein, ohne sie unkritisch zu übernehmen. Die Reportage macht deutlich, dass die Proteste weit über ein einzelnes Gesetz hinausgehen und grundsätzliche Fragen ukrainischer Demokratie und Rechtsstaatlichkeit berühren. Ein hörenswerter Beitrag, der die Komplexität der ukrainischen Gesellschaft im Krieg jenseits eindimensionaler Narrative einfängt.