Nach Redaktionsschluss – Der Medienpodcast: Politiker-Interviews - Wie umgehen mit Propaganda und Unwahrheiten?
Ein aufmerksamer Hörer beklagt Falschinformationen in Politiker-Interviews – und bekommt von DLF-Moderator und Politikwissenschaftlerin eine ehrliche Einschätzung der journalistischen Grenzen.
Nach Redaktionsschluss – Der Medienpodcast
50 min read2293 min audioDer Podcast "Nach Redaktionsschluss" behandelt die Strategie von Politiker:innen, unbelegte oder falsche Behauptungen in Interviews in Nebensätzen zu platzieren, ohne dass diese direkt hinterfragt werden. Hörer Benjamin Bock aus Graz regt an, Interviews stärker aufzuarbeiten oder gar vorab aufzuzeichnen, um Falschinformationen zu korrigieren. Dirk-Oliver Heckmann (DLF-Moderator) und Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach (FU Berlin) erklären die redaktionellen Praxis- und Zeitprobleme, sprechen sich aber grundsätzlich für Live-Korrekturen und nachträgliche Faktenchecks aus. Sie betonen, dass besonders populistische Akteure absichtlich Desinformation streuen, um Angst zu schüren und Narrative zu setzen. Die Diskussion zeigt: Es fehlt an gesellschaftlicher Medienkompetenz, an verlässlichen Faktenchecks in Echtzeit und an Strategien gegen die Normalisierung extremistischer Sprache. Alle drei sind sich einig, dass es kein Patentrezept gibt, sondern kontinuierliche Reflexion in Redaktionen und in der Gesellschaft nötig ist.
### Populistische Strategie der Nebensatz-Desinformation
Politiker:innen aller Parteien würden in Interviews gezielt unwahre oder irreführende Behauptungen in Nebensätzen einstreuen, wenn das Hauptthema ein anderes sei. Bock zitiert Beispiele wie "WHO-Diktatur" oder Behauptungen, das UNHCR profitiere von Fluchtmigration. Reuschenbach betont, solche Signalwörter würden absichtlich platziert, um eigene Communities anzusprechen und gesellschaftliche Ängste zu schüren.
### Live-Interviews als journalistisches Prinzip
Heckmann erklärt, der Deutschlandfunk setze weitgehend auf Live-Gespräche, weil Aufzeichnungen bei Verdacht auf Schnitte von problematischen Gesprächspartnern als Zensur wahrgenommen würden. Die Redaktion bereite sich intensiv vor, halte Fakten parat und korrigiere Falschbehauptungen sofort oder im Anschluss durch Expertengespräche. Die Praxis sei aufwendig, aber notwendig, um Misstrauen gegenüber Medien zu vermeiden.
### Faktenchecks und "Wahrheitssandwich"
Bock schlägt vor, bei Aufzeichnungen vorab auf Falschinformationen zu prüfen und gegebenenfalls mit einem Disclaimer zu versehen oder direkt im Anschluss Faktenchecks zu senden. Reuschenbach hält das für schwierig, da viele fragwürdige Behauptungen nicht eindeutig als falsch erkennbar seien und erst tiefere Recherche nötig sei. Sie plädiert stattdessen für mehr Medienkompetenz in der Bevölkerung, um Studien und Umfragen besser einordnen zu können.
### Gesellschaftliche Spaltung durch Desinformation
Die Gesprächsteilnehmer:innen sehen eine wachsende Herausforderung durch gezielte Desinformation, besonders in sozialen Medien. Reuschenbach verweist auf das Phänomen der "News Avoidance": Viele Menschen würden Nachrichten bewusst meiden, weil die Informationsflut und die Themenbelastung zu groß seien. Dies führe dazu, dass nur noch oberflächliche oder algorithmisch verbreitete Informationen wahrgenommen würden, was gesellschaftliche Polarisierung verstärke.
### Notwendigkeit langfristiger Bildungsarbeit
Alle sind sich einig, dass kurzfristige technische Lösungen wie Aufzeichnungen oder Disclaimer nicht ausreichen. Stattdessen brauche es eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, wie Fakten definiert und wissenschaftliche Erkenntnisse eingeordnet werden. Reuschenbach fordert mehr Wissenschafts- und Medienbildung in Schulen und für Erwachsene, um Urteilskompetenz gegenüber Fake News, Deepfakes und algorithmisch verbreiteter Propaganda zu stärken.
## Einordnung
Die Episode zeigt ein offenes, selbstreflexives Medienformat, das Kritik ernst nimmt. Die DLF-Vertreter:innen argumentieren transparent und differenziert, ohne Defensiv- oder Abwehrhaltung. Besonders wertvoll ist die Einbindung eines kritischen Hörers, wodurch das Gespräch nicht unter sich bleibt. Die Diskussion verdeutlicht das Spannungsfeld zwischen journalistischem Anspruch und praktischen Einschränkungen wie Sendezeit oder Live-Charakter. Kritisch bleibt, dass die Verantwortung für die Bekämpfung von Desinformation letztlich wieder auf die Rezipient:innen abgewälzt wird („Medienkompetenz“), während strukturelle Probleme wie die Viralität von Falschinformationen auf Social Media nur angerissen werden. Die Perspektive derer, die sich durch gezielte Desinformation verunsichert oder ausgegrenzt sehen, bleibt aus. Dennoch liefert der Podcast eine wichtige Momentaufnahme über den Zustand politischer Kommunikation in Deutschland und die Rolle von Medien als mögliche Gegenmacht.