Byline Podcast: Israel, Gaza and antisemitism today
Ein mutiges Gespräch über die politische Instrumentalisierung des Antisemitismus-Begriffs und die komplexe Realität jüdischer Identität in Zeiten des Gaza-Kriegs.
Byline Podcast
20 min read1451 min audioAdrian Goldberg spricht mit Rachel Shabi über ihr Buch "Off-White: The Truth About Antisemitism", aufgezeichnet beim Byline Festival 2025 an der Keele University. Shabi, Journalistin und Autorin, erklärt, warum sie sich trotz Warnungen von Freund:innen dem Thema Antisemitismus gewidmet hat: Die öffentliche Debatte sei zu einem "hellscape" verkommen, das mehr Spaltung als Verständnis schaffe.
### 1. Antisemitismus werde politisch instrumentalisiert
Shabi betont, dass Kritik an Israels Krieg in Gaza nicht automatisch antisemitisch sei. Sie zitiert: "When people look at the current situation in Israel and they see an extremely powerful government killing civilians... and then when they criticise that, being accused of being anti-Semitic. That's not the anti-Semitism that I recognise from growing up as a child." Die politische Instrumentalisierung des Begriffs verhindere eine ernsthafte Auseinandersetzung mit tatsächlichem Antisemitismus.
### 2. Die "jüdisch-christliche Tradition" sei eine politische Erfindung
Shabi hinterfragt den Begriff "Judeo-Christian heritage": "Judeo-Christian was a hyphen that was essentially a political invention that came about in the post-Second World War period... It was a way to essentially include Jewish populations after the Holocaust... But it's not actually a thing." Die tatsächlich geteilte kulturelle Entwicklung fand zwischen jüdischer und islamischer Tradition statt.
### 3. Antisemitismus funktioniere anders als struktureller Rassismus
Während struktureller Rassismus gegen Schwarze und muslimische Menschen durch staatliche Institutionen verstärkt werde, sei Antisemitismus heute primär ein "conspiracy about power": "the idea that Jewish people are secretly plotting, orchestrating, up to no good, the enemy within societies." Diese historische Konstruktion aus dem christlichen Europa unterscheide sich fundamental von anderen Formen des Rassismus.
### 4. Die Rechte habe Israel für ihre Zwecke vereinnahmt
Shabi beschreibt eine beunruhigende Entwicklung: Die extreme Rechte, die früher offen antisemitisch war, unterstütze nun Israel als Teil ihrer "clash of civilizations"-Narrative. Sie zitiert: "You can be as anti-Semitic as you like, as long as you're cheerleading for right-wing Israel." Gleichzeitig bleibe die israelische Politik für Palästinenser:innen ein koloniales Projekt.
### 5. Israel sei gleichzeitig Fluchtort und koloniales Projekt
Shabi präsentiert die doppelte Perspektive: Für israelische Juden sei Israel ein nationaler Fluchtort vor jahrhundertelanger Verfolgung in Europa. Für Palästinenser:innen hingegen sei es ein koloniales Projekt der Enteignung. Ein palästinensischer Philosoph habe dies treffend formuliert: "Europeans see the face of the Jew fleeing persecution. Palestinians see the face of the coloniser arriving to dispossess them."
## Einordnung
Die Diskussion zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Offenheit aus, die komplexe historische und politische Zusammenhänge verhandelt, ohne in Vereinfachungen zu verfallen. Shabi gelingt es, die Verstrickung von Antisemitismus, Kolonialismus und aktueller Politik differenziert darzustellen. Besonders bemerkenswert ist die klare Abgrenzung zwischen legitimer Kritik an Israels Politik und antisemitischen Stereotypen - eine Grenzziehung, die in der aktuellen Debatte oft vermissen lässt. Die Analyse der historischen Wurzeln antisemitischer Verschwörungstheorien und deren Unterschied zu strukturellem Rassismus bietet wichtige Einsichten für das Verständnis zeitgenössischer Diskurse. Die Feststellung, dass die extreme Rechte Israel für ihre eigenen rassistischen Narrative instrumentalisieren könne, ohne ihre antisemitische Grundhaltung aufzugeben, ist besonders brisant. Der Podcast bietet keine einfachen Antworten, sondern fordert dazu auf, historische Komplexitäten anzuerkennen und voreilige Vereinfachungen zu vermeiden.