ChinaTalk: Where Japan Goes Next
Japans regierende LDP steckt in der tiefsten Krise seit Jahrzehnten - eine Analyse der politischen Umwälzungen nach Abes Tod.
ChinaTalk
80 min read5394 min audioIn der Episode "The Second LDP Collapse?" (Der zweite LDP-Kollaps?) diskutiert Jordan Schneider mit Japan-Experte Tobias Harris die dramatischen Entwicklungen in der japanischen Politik nach den jüngsten Oberhauswahlen. Die Liberaldemokratische Partei (LDP) befindet sich in einer existenziellen Krise, nachdem sie sowohl das Ober- als auch das Unterhaus verloren hat - ein direktes Ergebnis der Ermordung Shinzo Abes vor drei Jahren.
### Abes Tod als Wendepunkt der japanischen Politik
Harris argumentiert, dass Abes Ermordung 2022 der entscheidende Moment war, der die LDP in ihre aktuelle Krise stürzte. Abe sei zum Zeitpunkt seines Todes "wohl die mächtigste Figur in der japanischen Politik" gewesen - als Vorsitzender der größten Fraktion und ideologischer Anführer des rechten Parteiflügels. Sein Tod habe "einen fundamentalen Stützpfeiler der LDP-Regierungsführung" weggerissen und zwei verheerende Skandale ausgelöst: die Aufdeckung der Verbindungen zur Vereinigungskirche und später das Aufkommen von Finanzskandalen innerhalb der Abe-Fraktion.
### Der Aufstieg populistischer Alternativen
Als große Überraschung beschreibt Harris den Erfolg von Sanseito, einer rechtsradikalen Partei, deren Vorsitzender "seine Vorbilder in der AfD, Marine Le Pen und Reform UK" sehe. Die Partei sei aus der Anti-Impf-Bewegung entstanden und propagiere mittlerweile "anti-globalistische Verschwörungstheorien". Gleichzeitig habe die Demokratische Partei für das Volk (DPFP) überraschend gut abgeschnitten, indem sie sich als "Partei der urbanen jungen Arbeiterklasse" positioniere.
### Strukturelle Schwächen des Systems
Harris erklärt, dass die LDP unter Abe von "Wählerapathie" profitiert habe - bei "rekordniedrigen Wahlbeteiligungen" hätten die gut organisierten Wahlmaschinen der Regierungsparteien gereicht. Nun sei die Wahlbeteiligung um "sechseinhalb Prozentpunkte" gestiegen, während die LDP "sechs Millionen Stimmen" im Vergleich zu 2022 verloren habe.
### Generationswechsel und Erbpolitik als Problem
Ein zentrales Problem sieht Harris in der fehlenden Verjüngung: "Abe wurde 1993 gewählt, Suga 1996, Kishida 1993, Ishiba trat 1986 in die Politik ein." Die Dominanz der "Erbpolitik" frustriere jüngere Talente, wobei es paradoxerweise einen "schockierenden Fähigkeit" der LDP gebe, "junge Menschen als Kandidaten zu rekrutieren".
### Außenpolitische Spannungen
Die innenpolitische Schwäche wirke sich direkt auf die Außenbeziehungen aus. Harris berichtet von einer bemerkenswerten Veränderung in der öffentlichen Meinung: In einer Umfrage hätten "nur etwa 20 Prozent" gesagt, dass sie "den Vereinigten Staaten vertrauen" - eine "außergewöhnliche Zahl für Japan".
## Einordnung
Harris liefert eine präzise und kenntnisreiche Analyse der japanischen Politikkrise, die weit über oberflächliche Wahlberichterstattung hinausgeht. Seine zentrale These - dass Abes Ermordung als politischer Wendepunkt fungierte - ist überzeugend belegt und strukturiert die komplexe Gemengelage nachvollziehbar. Besonders wertvoll ist seine Einordnung des Populismus in Japan als "urbanes Phänomen", das sich historisch gegen etablierte Eliten richtete, nun aber erstmals auch xenophobe Züge annimmt.
Die Analyse zeigt exemplarisch, wie schnell sich vermeintlich stabile politische Systeme wandeln können, wenn zentrale Führungsfiguren wegfallen. Harris' Beobachtung zur veränderten US-Japan-Dynamik - dass erstmals seit Jahrzehnten anti-amerikanische Rhetorik innenpolitisch opportun erscheint - verdeutlicht die Tragweite der Entwicklungen. Seine differenzierte Bewertung von Sanseito, bei der er sowohl die rechtsradikalen Elemente als auch die klassischen populistischen Wirtschaftsversprechen berücksichtigt, vermeidet vereinfachende Erklärungsmuster. Die strukturelle Perspektive auf Japans Demokratiekrise - von der Erbpolitik bis zur mangelnden Generationserneuerung - bietet wichtige Einsichten in die Funktionsweise etablierter Demokratien unter Stress. Eine hörenswerte Episode für alle, die verstehen wollen, wie sich politische Landschaften fundamental verschieben können.