FALTER Radio: Der neue Pragmatismus der Linken - #1476
68er-Ikone Cohn-Bendit und Vordenker Leggewie analysieren, warum gesellschaftlicher Fortschritt nicht selbstverständlich ist und wie die Linke angesichts neuer Autoritarismuswellen reagieren sollte.
FALTER Radio
3777 min audioIm Gespräch mit Robert Misik im Bruno Kreisky Forum blicken Daniel Cohn-Bendit, Ikone des französischen Mai '68, und Claus Leggewie, Vordenker der deutschen Linken, auf die gesellschaftlichen Veränderungen seit 1968 zurück. Sie diskutieren, warum viele 68er heute als Teil des Establishments wahrgenommen werden, obwohl sie sich weiter gegen das System stellen. Cohn-Bendit beschreibt 68 als „Brandbeschleuniger“ für gesellschaftliche Reformen, während Leggewie betont, dass Reife nicht bedeute, sich mit dem Status quo abzufinden. Beide sehen die heutige Regression in Form von Nationalismus und Autoritarismus als Reaktion der „Verlierer:innen des Fortschritts“, die sich in nationaler oder religiöser Identität neue Haltung suchen. Sie kritisieren die Illusion vom „Ende der Geschichte“ nach 1989 und fordern eine neue linke Selbstvergewisserung angesichts mehrerer Krisen – Finanz-, Klima-, Migrations- und Kriegskrise. Die Rechten versprächen dagegen einfache Antworten, die gefährlich seien. Beide appellieren an die Linke, den Fortschritt nicht als selbstverständlich zu betrachten, sondern ihn aktiv zu verteidigen und neu zu formulieren.
### 1. 68 als Brandbeschleuniger gesellschaftlicher Veränderung
Cohn-Bendit betont, dass 68 zwar nicht allein Veränderungen bewirkt habe, aber als Katalysator fungiert habe: „Aber 68 war ein Brandbeschleuniger in diesem Land. Und dieser Brandbeschleuniger hat dazu geführt, dass sich doch einiges verändert hat.“
### 2. Die 68er als Störfaktor im Establishment
Trotz Teilhabe am System stünden viele 68er weiter in Opposition dazu. Cohn-Bendit: „Ich bin Teil des Systems, aber ich bin keiner der, die das System gut finden.“
### 3. Die Angst vor Sexualisierung als Kern des Anti-68er-Sentiments
Leggewie identifiziert die öffentliche Sexualisierung als zentrales Tabu, das 68er brachen: „Der 68er Bruch hat nicht nur die Familien oder die Bildungseinrichtungen betroffen, sondern war in seinen Ursprüngen ein Bruch mit der bürgerlichen Sexualmoral.“
### 4. Die neue Rechte als Reaktion auf Emanzipationsverluste
Cohn-Bendit erklärt die konservative Regression als Identitätssuche derer, die sich durch Fortschritt entwurzelt fühlen: „Die Opfer sind ja diejenigen, die sagen, wir verlieren unren Halt.“
### 5. Die Illusion vom „Ende der Geschichte“ als Fehler
Beide kritisieren die Selbstzufriedenheit nach 1989. Leggewie: „Das war ein kapitaler Fehler, weil es Geschichte eben nicht ein lineares Modell ist, sondern immer auch Rückschläge hat.“
### 6. Linke müssen Fortschritt neu verteidigen
Angesichts von Krisen sei der Glaube an Selbstregulierung der Gesellschaft gescheitert. Cohn-Bendit fordert: „Wir müssen uns die Frage stellen, wie gehen wir damit um?“
## Einordnung
Das Gespräch ist ein professionelles, journalistisches Format mit klarem Strukturanspruch. Misik führt souverän durchs Gespräch, stellt kritische Gegenfragen und vermeidet Hagiografie. Besonders bemerkenswert ist die Selbstreflexion der Protagonist:innen, die sich nicht in Nostalgie verlieren, sondern anerkennen, dass gesellschaftlicher Fortschritt nicht linear sei. Die Diskussion bleibt auf erfreulich differenziertem Niveau – weder werden 68er glorifiziert noch pauschal als Establishment diffamiert. Interessant ist die Diagnose, dass die neue Rechte nicht nur ökonomische Angste, sondern kulturelle Identitätsverluste adressiere. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass alternative Erklärungsmuster für autoritäre Rückschläge (z. B. soziale Medien, ökonomische Unsicherheit) kaum Erwähnung finden. Die Perspektive bleibt westeuropäisch-zentriert, globale Süd-Perspektiven fehlen. Insgesamt liefert das Gespräch keine einfachen Antworten, sondern fordert zur Auseinandersetzung mit Komplexität auf – ein bemerkenswertes Beispiel für gelingende politische Erinnerungskultur.