tl;dr: tl;dr #52 Karl Marx: «Das Kapital» Band 2 | mit Christian Schmidt

Ein anspruchsvoller, aber klarer Einstieg in Marx’ Theorie des Zirkulationsprozesses – mit aktuellen Bezügen zu Finanzialisierung und globalen Krisen.

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Der Theoriepodcast der Rosa-Luxemburg-Stiftung widmet sich in dieser Folge dem zweiten Band von Karl Marx' "Das Kapital", der sich mit dem Zirkulationsprozess des Kapitals beschäftigt. Moderator Alex Demirović diskutiert mit dem Philosophen Christian Schmidt über die technische Struktur des Bandes, die Abstraktionsmethode Marx' und die krisenhafte Dynamik kapitalistischer Reproduktion. ### Marx habe den Zirkulationsprozess des Kapitals als krisenhafte Metamorphose beschrieben Marx unterscheide drei ineinander verschränkte Kreisläufe: Geldkapital, produktives Kapital und Warenkapital. Diese Kreisläufe seien nicht nur nacheinander, sondern gleichzeitig ablaufende Prozesse, die durch Stockungen – etwa durch fehlende Rohstoffe, Streiks oder mangelnde Abnehmer – immer wieder krisenhaft unterbrochen würden. Wie Marx schreibe, sei „jeder Punkt zugleich Ausgangspunkt und Punkt der Rückkehr“ in einem „beständigen rotierenden Kreis“. ### Die Unterscheidung von fixem und zirkulierendem Kapital erkläre die zeitliche Struktur kapitalistischer Verwertung Fixes Kapital wie Maschinen oder Gebäude gebe seinen Wert nur stückweise an die Produkte ab, während zirkulierendes Kapital schneller umgeschlagen werde. Diese zeitliche Differenz führe zu Schatzbildung und Kreditbedarf: „Das Geld bleibt dann ‚unproduktiv‘, was zur Schatzbildung führt.“ ### Marx habe gezeigt, dass Krisen nicht von außen kommen, sondern zur Normalität des Systems gehören Die Kritik der politischen Ökonomie ziele darauf ab, zu zeigen, dass auch im „idealen Durchschnitt“ – also ohne Betrug oder Spekulation – Krisen entstehen müssten. Die kapitalistische Reproduktion sei „in sich krisenhaft“, nicht ein gelingender Kreislauf, sondern ein permanentes Scheitern auf der Ebene des Einzelkapitals. ### Die Reproduktionsschemata zwischen zwei Abteilungen (Produktions- und Konsumgüter) zeigen die Abstraktion gesellschaftlicher Verhältnisse Marx modelliere den Austausch zwischen Produzent:innen von Produktionsmitteln und Konsumgütern als notwendige Bedingung für erweiterte Reproduktion. Dabei werde explizit auf außenwirtschaftliche Faktoren, die Reproduktion der Arbeitskraft und ideologische Formen verzichtet – eine bewusste Abstraktion, die später von Feminist:innen und Postmarxist:innen kritisiert wurde. ### Zeitlichkeit im Kapitalismus sei keine neutrale Dimension, sondern strategisch verkürzt und beschleunigt Die kapitalistische Logik versuche, Produktions- und Umschlagszeiten zu verkürzen, um Kapitalbindung zu reduzieren. Dies gelinge nie vollständig, da materielle Prozesse (z. B. Reifung, Transport) unverkürzbar seien. Die Pandemie und Lieferkettenkrisen zeigten: „Je schneller und sicherer diese Prozesse organisiert sind, umso weniger unproduktiv gebundenes Kapital ist dann notwendig.“ ## Einordnung Der Podcast überzeugt durch klare Struktur und sachliche Vermittlung komplexer Theorie. Die Gesprächspartner:innen bewegen sich souverän zwischen Marx-Exegese und aktuellen Krisenphänomenen, ohne dabei in Beliebigkeit zu verfallen. Besonders bemerkenswert ist die selbstreflexive Haltung gegenüber der eigenen Abstraktion: Sie machen transparent, dass Marx bewusst bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse ausblendet, um das kapitalistische Bewegungsgesetz freizulegen. Diese Offenheit für Kritik – etwa von feministischer oder postkolonialer Seite – verhindert eine dogmatische Lektüre. Die Diskussion um Totalität, Reproduktion und Krisenhaftigkeit zeigt, wie produktiv klassische Theorie sein kann, wenn sie nicht als Dogma, sondern als Werkzeug zur Analyse gegenwärtiger Verhältnisse genutzt wird. Die Folge liefert keine einfachen Antworten, sondern eine fundierte Einführung in einen spröden, aber zentralen Text der Kritik der politischen Ökonomie. Hörempfehlung: Wer sich traut, durch trockene Passagen zu arbeiten, erhält hier eine brillante Einführung in Marx’ Theorie des kapitalistischen Kreislaufs – mit aktuellen Bezügen zur Finanzialisierung und globalen Krise.