Kontext: „Carne Cruda“ ist Spaniens erstes hörerfinanziertes Radiomagazin (Mo–Do 10 Uhr), betrieben von Javier Gallego „Crudo“ und Violeta Muñoz. Die Episode trägt den Titel „163 cm – wir leben in einer Welt, die nach oben schaut“. Hauptsprecher:innen: Javier Gallego (Moderation), Violeta Muñoz (Co-Moderation), Abraham Boba (Musiker/Autor, Buch „163 cm“), Paula Leitón (Wasserball-Olympiasiegerin, Buch „XXL“), sowie die Musikexperten Señor Tropical und Señor Sanabria. Hauptthema: Die gesellschaftliche Macht von Körpergröße – wie klein gewachsene Männer und groß gewachsene Frauen diskriminiert werden, sich selbstbehauptung finden und dies künstlerisch verarbeiten. ### 1. Sprache verrät Macht: „bajito“ statt „bajo“ Boba konstatiert, selbst wohlwollende Gespräche benutzten durchgehend Diminutive („bajito“). Dies signalisiere, dass Kleingröße als Manko gelte, das beschwichtigt werden müsse. Das Beispiel zeige, wie tief „Höhe-Hierarchien“ in der Alltagssprache verankert seien. ### 2. „Auf der Bühne wirkst du größer“ – Mikro-Aggressionen im Kulturbetrieb Boba zitiert häufige Komplimente („Für jemanden, der so wenig misst, bist du auf der Bühne riesig“). Diese scheinbare Lobhudelei degradiere künstlerische Leistung zur Körperfrage und verweise auf eine „Kompensations-Erzählung“, die kleinwüchsigen Männer nur dann Sichtbarkeit gestatte, wenn sie „über sich hinauswachsen“. ### 3. Liebesmarkt und CEO-Statistiken: Daten statt Anekdote Mehrere Studien zufolge seien überdurchschnittlich viele Führungskräfte über 1,80 m groß; Dating-Apps würden Männer <1,70 m systematisch weg-swipen. Boba verwandelt persönliche Erfahrung (z. B. „du bist toll, aber zu klein“) in strukturelle Kritik: Größe funktioniere wie eine „unsichtbare Aktie“ im sozialen Kapitalmarkt. ### 4. Extreme Gegenmaßnahmen: Knochenbruch als Wachstumsstrategie Die Redaktion spielt ein Audio-Schnipsel aus der Doku „Short and Male“, in der Erwachsene sich die Oberschenkel durchbrechen, um mit Stahlstäben täglich 1 mm „länger“ zu werden. Der Einsatz monatelanger Schmerzen für ein paar Zentimeter werde zur Metapher für kapitalistische „Enhancement-Logik“, die Männer zu medizinischen Selbstverstümmelung zwinge. ### 5. Frauen-Körper: „zu groß“ statt „zu klein“ Paula Leitón berichtet von Shitstorms wegen 1,88 m/95 kg. Während Männer diskriminiert würden, wenn sie „unterschreiten“, würden Frauen abgestraft, wenn sie „überschreiten“. Ihr Buch „XXL“ und ihr Motto „breite Schultern für Hass-Kommentare“ stelle die „andere Seite der Maß-Skala“ vor und fordere zur Dekonstruktion beider Geschlechterstereotype auf. ### 6. Kleine Körper – große Kunst Ein durchgehender argumentative Trick der Sendung besteht darin, musikalische „Short Giants“ (Prince, Lady Gaga, Iggy Pop, Flea, Cordell Jackson) als kulturelle Gegenfiguren einzuführen. Ihre Bühnenpräsenz werde zur „Batterie-Ram“ gegen essentialistische Größen-Mythologien: „Kreativität misst man nicht in Zentimetern.“ ## Einordnung Die Episode nutzt ein journalistisch-professionelles Format (hörerfinanziert, redaktionelle Recherche, Interview-Expertise), bleibt aber in der Argumentationsweise stark essayistisch und persönlich. Besonders stilvoll gelingt es, durch Musik-Exkurse (Toma y Daca-Segment) persönliche Betroffenheit mit kultureller Geschichte zu verweben. Die Moderation schafft einen sicheren Raum für vulnerables Sprechen über Körper, ohne in Selbstmitleid zu verfallen. Kritisch bleibt: Obwohl Boba betont, keine „Victim-narrative“ zu liefern, dominiert eine einzige Achse der Diskriminierung (Größe), andere Intersektionalitäten (z. B. Behinderung, Rassismus) werden kaum gestreift. Die Sendung reproduziert damit implizit die „normative Kurve“, die sie anprangert – indem sie fast ausschließlich weiße, zis-männliche, musikalische Protagonisten sichtbar macht. Der Fokus auf Selbstoptimierung und Dating-Markt führt zudem zu einer leicht neoliberalen Rahmung: Wer „nicht passt“, soll sich entweder durch medizinische oder künstlerische „Erfolgs-Assets“ kompensieren; strukturelle Lösungen (z. B. Anti-Diskriminierungsgesetze) bleiben außen vor. Insgesamt liefert „Carne Cruda“ eine emotionsstarkte, aufklärende, aber diskursiv begrenzte Auseinandersetzung mit Körpernormen – gespickt mit unterhaltsamen Musik- und Popkultur-Exkursen. Hörwarnung: Wer sensibel gegenüber Themen chirurgischer Selbstverstümmelung oder essentialisierender Körper-Kommentare ist, sollte sich auf diese Passagen vorbereiten; die Sendung bietet aber reflektierende Distanz und keinen konkreten Handlungsaufruf.