Carl-Auer Sounds of Science: #1 Erkenntnistheoretischer Führerschein | Die Kunst des klaren Wischiwaschi

Die erste Folge des "Erkenntnistheoretischen Führerscheins" macht systemisches Denken erfahrbar – mit Straßenverkehr als Lehrmeister.

Carl-Auer Sounds of Science
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Andreas Kollar und Fritz B. Simon eröffnen die erste reguläre Folge des "Erkenntnistheoretischen Führerscheins" und widmen sich der Frage, was eigentlich Beobachten bedeutet. Die beiden nutzen dabei die Metapher des Straßenverkehrs, um zu zeigen, wie wir permanent Unterscheidungen treffen, Phänomene benennen und Bedeutung zuschreiben – ohne uns dessen meist bewusst zu sein. ### 1. Schlampiges Denken sei hochfunktionell Fritz Simon behauptet, dass unlogisches oder "schlampiges" Denken eine psychische Gesundheitsvorsorge darstelle: "Nur wer schlampig denkt, bleibt gesund." Wer Logik und Leben verwechsle, lande mit großer Wahrscheinlichkeit in einer psychiatrischen Anstalt. ### 2. Landkarte und Landschaft dürfen nicht verwechselt werden Ein zentraler "Denkunfall" bestehe darin, die Bezeichnung (Landkarte, Speisekarte) mit dem Bezeichneten (Landschaft, Speise) gleichzusetzen. Simon erinnert an Lewis Carrolls Geschichte, in der eine Landkarte im Maßstab 1:1 die Landschaft selbst verdecke. ### 3. Beobachten besteht aus Unterscheiden und Bezeichnen Jede Beobachtung setze sich aus zwei Schritten zusammen: dem Unterscheiden eines Phänomens und seinem Bezeichnen. Beispiel Straßenverkehr: "Wir schauen nach links und nach rechts" – wir selektieren, was relevant ist, und benennen es (Ampel rot/grün). ### 4. Beobachtung zweiter Ordnung ermögliche Selbstreflexion Menschen könnten nicht nur ihre Umgebung beobachten, sondern auch sich selbst beim Beobachten. Diese "Beobachtung zweiter Ordnung" erlaube Rückschlüsse auf wiederkehrende Muster, etwa wenn jemand zum dritten Mal dieselbe Dauerbaustelle anfährt. ### 5. Unklarheit habe kommunikative Funktion Vieldeutige Formulierungen – etwa in UN-Resolutionen – seien absichtlich so gestaltet, damit alle Parteien zustimmen könnten. Klarheit streben zu wollen, wo Unklarheit funktional sei, könne selbst zu einem "Denkunfall" werden. ## Einordnung Die Folge präsentiert sich als anspruchsvoller, aber zugänglicher Einstieg in systemisch-konstruktivistisches Denken. Kollar und Simon gelingt es, komplexe Konzepte wie Beobachtung, Selbstreflexion und die Unterscheidung von Konstrukt und Realität mit Alltagsmetaphern nachvollziehbar zu machen. Die Gesprächsführung ist locker, aber stets fokussiert; Simon übernimmt klar die Rolle des erfahrenen Fahrlehrers, während Kollar als neugieriger Lernender agiert. Besonders gelungen ist die Balance zwischen theoretischer Tiefe und praktischer Anwendbarkeit – etwa durch die Kreis-Übung nach Spencer-Brown oder die Aufforderung, bewusst zu entscheiden, wann Klarheit und wann bewusstes "Wischiwaschi" sinnvoll sei. Die Folge verzichtet auf journalistische Überformung und bietet stattdessen ein offenes, experimentelles Format, das zum Mitdenken einlädt. Wer sich für systemisches Denken, Selbstreflexion oder die Philosophie der Beobachtung interessiert, erhält hier eine unterhaltsame und lehrreiche Einführung. Hörempfehlung: Unbedingt anhören, wenn du lernen willst, wie man Beobachtung als Werkzeug für klares Denken und gelingende Kommunikation nutzt – mit Humor und Tiefe.