Böll.Fokus: »Nie wieder Friede?« - Betrachtungen zum Kunstfestival Steirischer Herbst
Ein ehrlicher Blick darauf, wie politische Kunst Krieg und rechte Gewalt erlebbar macht – ohne Lösungen, aber mit dringender Frage: Stehen wir am Rand neuer Kriege?
Böll.Fokus
35 min read1975 min audioDer Podcast der Heinrich-Böll-Stiftung begleitet sechs Stipendiatinnen verschiedener Fächer beim Besuch des internationalen Kunstfestivals „Steirischer Herbst“ in Graz. Das Festival stand 2024 unter dem Motto „Never Again Peace“ und setzte sich künstlerisch mit Krieg, rechter Gewalt und dem Verlust politischer Begriffe auseinander. Die jungen Frauen berichten von aufwühlenden Performances, darunter eine Theaterproduktion mit tatsächlichen rechten Jugendlichen, die mit unmoderierten rassistischen und homophoben Parolen provozierte. Sie diskutieren, wie Kunst angesichts realer Kriege in Ukraine und Gaza Perspektiven öffnen kann, ohne Lösungen zu liefern. Die Episode endet mit der Einsicht, dass die eigene Positionierung angesichts globaler und lokaler Bedrohungen dringlicher denn je erscheint.
### Die künstlerische Freiheit wird durch Verträge geschützt, während rechte Politik die Region prägt
Die Festivalleiterin Ekaterina Degot betont, dass ihr Vertrag künstlerische Freiheit garantiert – notwendig, sitzt doch ein FPÖ-Mann im Aufsichtsrat. Die künstlerischen Beiträge thematisieren diese Spannung, etwa wenn eine Performance ausschließlich „rechtspopulistische Gedankengüter“ durch das steirische „Haus aus Sprache“ führt.
### Rechte Jugendliche erhalten eine Bühne, um unmoderiert rassistische und homophobe Parolen zu schreien
In „Violenza 2025“ stehen fünf österreichische Jugendliche auf der Bühne, präsentieren sich als Patrioten und skandieren schließlich „gehetzt“ und „physisch gewaltvoll“ entsprechende Inhalte. Die Regie verzichtet auf Kommentar, um die Normalität rechter Gewalt sichtbar zu machen – ein Konzept, das mindestens eine Stipendiatin vorzeitig den Saal verlassen lässt.
### Künstler:innen aus Kriegsgebieten berichten von Alltag zwischen Drohnen und Zwangsrekrutierung
Die ukrainische Filmemacherin Dana Kavelina erzählt, wie sie ihre Arbeit zwischen Luftabwehr-Raketen fertigstellte, während ein enger Freund zwangsverpflichtet und später „ermordet“ wurde. Ihr leiser Stop-Motion-Film lässt einen Soldaten und eine Kuh durch zerstörte Landschaft irren – ein Bild des Verlusts, das die Stipendiatinnen als „schmerzhaft“ und „extrem erfahrungsnah“ beschreiben.
### Die deutsche Linke zerstreitet sich über die Frage, ob „Never again“ nur für Juden oder für alle gelten muss
Die Künstlerin Candice Breitz kritisiert, dass deutsche Linke fordern, Israel habe „eine Blanko-Vollmacht“, weil „wir sechs Millionen von ihnen getötet haben“. Sie selbst verurteilt den 7.-Oktober-Terror, sieht aber Netanyahu als „ultimativen Multiplikator von Antisemitismus“ und fordert, dass „Never again“ universell gelten müsse – eine Position, die ihr in Deutschland wiederholt Antisemitismus-Vorwürfe einbrachte.
### Kunst bleibt in Graz auf bürgerliche Galerien beschränkt – Proteste finden nicht auf der Straße statt
Trotz brisanter Themen bleibt das Festival in seinen Besucher:innen-Kreisen: „immer wieder die gleichen Gesichter“, ein „linksliberales, eher älteres bürgerliches Milieu“. Einziger Ausbruch ist ein „Bett-Rennen“ mit Regenbogen-Farben – ein Symbol der Solidarität mit Palästina, das aber kaum als Protest wahrgenommen wird.
## Einordnung
Der Podcast zeigt eindrucksvoll, wie ein Kunstfestival mit klarem antifaschistischem Erbe aktuelle Konflikte bearbeitet – ohne Lösungen zu liefern, sondern Perspektiven zu eröffnen. Besonders bemerkenswert ist die offene Auseinandersetzung mit rechter Gewalt: Dass tatsächliche Rechtsextreme eine Bühne erhalten, wird kontrovers diskutiert, aber eben nicht verdammt. Die Stipendiatinnen reflektieren selbstkritisch, wie sehr sie lieber weggucken würden – und dass sie genau das nicht tun dürfen. Der Fokus auf Ukraine und Gaza gelingt, weil konkrete Lebensrealitäten im Zentrum stehen, nicht abstrakte Politik. Die fehlende Straßenproteste in Graz zeigt jedoch auch die Grenzen kultureller Arbeit: Sie erreicht meist jene, die ohnehin überzeugt sind. Dennoch vermittelt die Episode eine dringende Botschaft: Die Zeit für friedliche Neutralität scheint vorbei – Kunst kann helfen, das zu verstehen, nicht aber, die Entscheidungen abzunehmen.