Die Dunkelkammer – Der Investigativ-Podcast: #242 Grell, rasant, gefährlich: Kinder und Jugendliche auf TikTok & Co #3
Investigative Einblicke in TikTok-Radikalisierung und praktische Tipps für Gegen-Geschichten.
Die Dunkelkammer – Der Investigativ-Podcast
3783 min audioDie Investigativ-Journalist:innen Edith Meinhart und ihr Team sprechen mit den Jugendforscher:innen Esim Karakuyu und Fabian Reicher über das soeben erschienene Buch „Alternative Held:innenreise“. Im Mittelpunkt stehen digitale Radikalisierungsprozesse von jungen Menschen auf TikTok: von der Manosphere um Andrew Tate über rechte Influencer:innen bis zu religiösen Prediger:innen, die alle mit einfachen Antworten und Underdog-Narrativen werben. Die Expert:innen erklären, wie Influencer wie Mojs öffentliche Zusammenbrüche live inszenieren, warum 10-Sekunden-Religionsurteile viral gehen und wie Algorithmen Jungen automatisch Männercoaching und Mädchen Tradwife-Content vorsetzen. Sie zeigen, dass hinter scheinbar harmlosen Trends wie „Pudding mit Gabel“ oder Trainspotter-Streits tatsächlich extreme Ideologien aufbereitet und an Jugendliche verkauft werden – inklusive Codes wie „Holztür“ für Holocaustleugnung. Gleichzeitig sehen sie in Social Media eine Chance: Wer die Spielregeln versteht, kann selbst Gegen-Geschichten erzählen, ohne Manipulation, und so solidarische Narrative verbreiten.
### 1. TikTok-Radikalisierung beginnt längst bevor Eltern von den Themen hören
Die Expert:innen betonen, dass sich Jugendliche längst in Nischen bewegen, die dem Mainstream verborgen bleiben. Während ORF und Co erst auf „Pudding mit Gabel“ aufspringen, hätten die Jugendlichen schon längst neue Trends, Beats oder Subkulturen wie Trainspotter-Streits. „Wenn ein Phänomen es raus aus den Kommentarspalten schafft, kommt irgendwann der Mainstream – meist viel zu spät, um noch mit Jugendlichen darüber zu sprechen.“
### 2. Mädchen und Jungen landen fast sofort in getrennten Ideologie-Blasen
Weil TikToks Algorithmus primär Watchtime misst, „dauert es nicht lange, bis auf der For-You-Page von Jungen Männercoaches und rechte Akteur:innen erscheinen“, während Mädchen Tradwife-Videos oder Clean-Girl-Ästhetik vorgeschlagen bekommen. Die Plattform biete damit „eine Art geschlechtsspezifisches Radikalisierungsprogramm auf Zuruf“.
### 3. Die Manosphere verkauft Männlichkeit als teures Produkt
Ob Andrew Tate oder deutsche Nachahmer:innen – sie alle erzählen die gleiche Underdog-Story: „Ich war unten, hab die rote Pille genommen, jetzt bin ich Alpha, reich und umringt von Frauen.“ Das Ende der Videos sei fast immer identisch: „Link in der Bio – kauf meine Supplements oder mein Coaching.“ Junge Männer würden dafür hunderte Euro zahlen, obwohl die Versprechen „immer konstruiert und gelogen“ seien.
### 4. Online-Prediger nutzen Popkultur, um reaktionäre Theologie schmackhaft zu machen
Scheich Ibrahim beantworte banale Fragen wie „Darf ich im Paradies Super-Saiyajin werden?“ mit kurzen, dogmatischen Urteilen. Die Mischung aus Anime-Fandom und scheinbar klaren religiösen Antworten mache seine Inhalte „irrsinnig attraktiv“ und verbreite „Minderheitenpositionen im Islam, die teils extremistisch sind“ – ohne dass die Jugendlichen theologische Gegenstimmen zu Gesicht bekämen.
### 5. Rechte Szene und Islamisten bedienen sich derselben Narrative
Beide Milieus nutzen „Kampf der Kulturen“-Mythen, Underdog-Opferrollen und Codes wie „Holztür“ für Holocaustleugnung. Sie hätten „als erste verstanden, wie man Social Media nutzt“, während progressive Akteure „alles zehnmal durchdiskutieren“ und deshalb zu langsam seien.
### 6. Gegen-Geschichten sind möglich, wenn man Algorithmus und Formate versteht
Die Autor:innen plädieren dafür, „die Spielregeln von Social Media zu lernen“, um solidarische Geschichten ebenso schnell und virulent zu erzählen wie extremistische Propaganda. Das Buch biete deshalb eine DIY-Anleitung für Jugendliche, Pädagog:innen und Eltern, „ihre eigenen Held:innengeschichten“ zu produzieren – ohne verkürzte Antworten und mit offenen Enden, die „die Zahl der Optionen erhöhen“.
## Einordnung
Die Folge zeigt investigative Journalist:innenarbeit auf höchstem Niveau: klar recherchiert, stringent aufgebaut und ohne erhobenen Zeigefinger. Besonders stark: Die Expert:innen entschlüsseln komplexe Radikalisierungsmechanismen in alltagsnaher Sprache und liefern konkrete Handlungsoptionen. Kritisch bleibt, dass fast ausschließlich weiße, zis-heterosexuelle Expert:innen zu Wort kommen; Betroffene aus der Manosphere oder betroffene Muslim:innen würden das Gespräch bereichern. Die Sendung vermeidet es gekonnt, Jugendkultur pauschal zu pathologisieren; stattdessen wird deutlich, dass „Social Media der Spiegel der Welt“ ist – mit all seinen Widersprüchen. Wer die Spielregeln versteht, kann ihn ebenso für solidarische Geschichten nutzen. Das macht Mut und liefert eine realistische Perspektive jenseits von Digital-Panik.
Hörempfehlung: Unbedingt anhören – liefert tiefere Einsichten in TikTok-Mechanismen als die meisten Medienberichte und gibt konkrete Werkzeuge für Eltern, Pädagog:innen und Jugendliche in die Hand.