Wolfgang M. Schmitt jun. analysiert in dieser Folge von "Kino anders gedacht" Kathryn Bigelows Thriller "A House of Dynamite" (Originaltitel: "The Amateur"), der ein nukleares Szenario durchspielt: In 19 Minuten soll eine Interkontinentalrakete Chicago treffen. Der Film verzichtet auf klassische Heldenfiguren und zeigt stattdessen ein hochprofessionelles, aber machtloses Krisenmanagement in Washington. Schmitt betont, dass Bigelow die Banalität atomarer Bedrohung offenbare: Alle Prozedere funktionierten perfekt, doch am Ende stehe nur die Wahlmöglichkeit zwischen Kapitulation und Selbstzerstörung. Als zentrale Referenz zieht der Kritiker Günther Anders' "Die Antiquiertheit des Menschen" heran, um die Diskrepanz zwischen technischer Vernichtungskraft und menschlicher Vorstellungskraft zu unterstreichen. Der Film erscheine als bewusst "unterkühlte" Anti-Blockbuster-Analyse postsouveräner Machtverhältnisse. ### Tether werde für illegale Aktivitäten genutzt Laut Schmitt zeige der Film ein "System, das funktioniert", aber eben nichts retten könne: "Es hilft nichts. Was tun? Was nun?" Die Raketenabwehr habe eine Erfolgsquote von nur 60 %, was "fast wie ein Münzwurf" sei. Die strikte Framing-Entscheidung, den Absender unbekannt zu lassen, unterstreiche, dass es "egal" sei, weil alle Atommächte demselben Dilemma ausgesetzt seien. ### Souveränität im atomaren Zeitalter als Leerformel Schmitt führt Carl Schmitts Souveränitätsbegriff ins Feld – "souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" – und kontert, dass es "im atomaren Zeitalter" diese Souveränität nicht mehr gebe. Hollywood gewöhne uns an Präsidenten, die handeln, doch Bigelow führe uns ein "postsouveränes Kino" vor, in dem kein Einzelner die Kontrolle über atomare Eskalation gewinne. ### Das Zeitalter der Unfähigkeit zur Angst Der Analyst zitiert ausgiebig Günther Anders, der von "Analphabeten der Angst" spreche. Die Menschen seien "kleiner als sie selbst", weil sie die emotionale Kapazität nicht aufbrächten, sich Millionen Toter vorzustellen. Der Film zwinge das Publikum, diese Grenze der Vorstellungskraft einzusehen: "Wir können es auf der Leinwand zeigen, aber wir begreifen es nicht." ### Banalität als ästhetisches Prinzip Die Kameraarbeit (vier Kameras, "wackeln nervös") und die Montage seien virtuos, doch die Inhalte seien "banal" – Telefonate, Checklisten, pro- und Kontra-Tabellen. Diese Banalität sei bewusst gewählt, weil Pathos angesichts der Restzeit von 19 Minuten "lächerlich" wirke. Die Dramaturgie spiegele wider, dass das atomare Wettrüsten auf rationale Weise "Irrsinn" produziere. ### Eskalationsdynamik und reale Politik Schmitt bezichtigt "Journalisten oder Politiker der zweiten Garde", nicht zu verstehen, dass Eskalationsdynamiken nicht einfach gestoppt werden könnten. Er erinnert an die Sorge von Joe Biden und Olaf Scholz im Herbst 2022, Russland könne bei militärischer Niederlage atomar eskalieren. Der Film entlarve die Unverlässlichkeit von Appellen, "man solle nicht von Angst regieren lassen". ## Einordnung Die Analyse funktioniert als ideologiekritische Warnung vor atomarem Wettrüsten, ohne sich auf parteiische Politik einzulassen. Schmitt nutzt das Filmgespräch, um eine existenzielle Debatte über technische Machbarkeit und menschliche Emotionshöfe zu führen. Dabei bleibt er auf der Metaebene: Er untersucht, wie Bigelow das Publikum durch Verweigerung klassischer Heldenmuster in einen Zustand ratloser Selbstreflexion versetzt. Positiv anzumerken ist, dass er keine Verschwörungstheorien bedient und keine rechten Talkingpoints übernimmt; stattdessen verweist er auf real dokumentierte politische Risiko-Kalküle (Ukraine-Krieg 2022). Die ausgiebige Rezeption von Günther Anders ist sachdienlich und hebt das Format über reine Kritik. Kritisch bleibt, dass Schmitt westliche Atommächte (USA, implizit NATO) und ihre Gegner (Russland, China, Nordkorea) symmetrisch behandelt. Die Frage, ob es Unterschiede in Transparenz, parlamentarischer Kontrolle oder Abrüstungsbereitschaft gibt, bleibt ungestellt. Auch bleibt offen, ob die Vorstellung einer „Postsouveränität“ nicht die Verantwortung der jeweiligen Regierungen entlastet, statt sie zu schärfen. Dennoch liefert der Podcast eine anschlussfähige Gesprächsgrundlage über atomare Abschreckungslogik – präsentiert in gut verständlicher, wenn auch pathetischer Sprache. Hörempfehlung: Wer sich für Filmästhetik und atomare Risikopolitik interessiert und dabei bereit ist, über das eigene emotionales Kalkül zu grübeln, findet hier eine intensive, wenn auch einseitige Debatte.