FASHION THE GAZE: GIRLHOOD: „In die Sonne schauen“ und Inszenierungen auf TikTok
Feministische Popkultur-Analyse über weibliche Identität zwischen Film und TikTok
FASHION THE GAZE
56 min read2667 min audioFreya Herrmann und Vera Klocke analysieren in "Fashion the Gaze" die filmische Darstellung von Girlhood in Mascha Schilinskis Werk "In die Sonne schauen" sowie entsprechende Inszenierungen auf TikTok. Sie diskutieren, wie weibliche Identität zwischen Selbstinszenierung, äußerer Wahrnehmung und gesellschaftlicher Gewalt verhandelt wird – sowohl im Kino als auch in sozialen Medien.
### 1. Subtile Gewalt als zentrale Erfahrung
Die Gesprächspartner:innen betonen, dass Schilinskis Film die Allgegenwärtigkeit von Blickgewalt und eine "lauernde Rape Culture" poetisch aber schonungslos zeige. Die Kamera folge dabei einem Lichtpunkt, der den Körper der Protagonistin "abtastet", wodurch Zuschauende die Verletzung körperlicher Grenzen selbst spüren könnten. Gewalt erscheine oft "in Form von Blicken", wodurch die Subjektivität der Figuren zur Disposition gestellt werde.
### 2. Zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
Ein zentrales Motiv sei das Aushandeln von Aufmerksamkeit: Mädchen würden sich nach Anerkennung sehnen, gleichzeitig aber mit sexualisierenden Blicken konfrontiert. Diese Ambivalenz zwischen dem Wunsch, gesehen zu werden, und der Angst, missbraucht zu werden, präge weibliche Sozialisation über mehrere Generationen. TikTok-Beiträge spiegeln dieses Dilemma, indem sie einerseits Körper zeigen, andererseits über die daraus resultierende Unsicherheit reflektieren.
### 3. Transgenerationale Traumata und begrenzte Handlungsoptionen
Der Film inszeniere Geschlechterungleichheit als historisch durchgehende Erfahrung: Mädchen aus verschiedenen Epochen sehen sich mit ähnlichen Zwangssituationen konfrontiert. Als einzige Auswegstrategien blieben Selbstschutz oder Selbstschädigung, etwa Suizid, um arrangierten Ehen oder Vergewaltigung zu entgehen. Diese Sichtweise wird durch TikTok-Videos ergänzt, die vor Rechtsruck und Verlust von Frauenrechten warnen und damit eine historische Rückwärtsentwicklung befürchten lassen.
### 4. „Empty Consent“ und gelebte Ambivalenz
Das Konzept des „Empty Consent“ erkläre, wie Mädchen gesellschaftlich darauf konditioniert seien, übergriffige Situationen nicht offen zu widersprechen, sondern sie zu ertragen. Diese Form des „nicht-dezidiert Zustimmens" werde durch Scham und die Erwartung von Resilienz verstärkt. Die Podcast-Gespräche zeigen, dass sich dieses Paradoxon auf TikTok fortsetze: Creator:innen inszenieren sich stark sexualisiert, reflektieren aber gleichzeitig, dass sie sich männlichen Blicken unterwerfen, um Anerkennung zu erhalten.
### 5. Feministischer Wandel zwischen Aktivismus und Neoliberalismus
Die Analyse zeigt, wie soziale Medien Feminismus einerseits populär machen, andererseits individualisieren: Die Verantwortung für Empowerment werde auf Einzelpersonen abgewälzt, etwa durch Therapie oder Fitness, statt strukturelle Ursachen anzugehen. Diese „Girlboss“-Erzählung blendet laut Moderation zum einen weibliche Solidarität ein, zum andere aber auch soziale Ungleichheit, etwa Klassen- oder Rassismus-Erfahrungen, die nicht jede Frau dieselben Freiheiten ermöglichen.
## Einordnung
Der Podcast bietet eine anspruchsvolle, thesenreiche Analyse, die filmisches Erzählen mit gegenwärtigen Debatten über Feminismus und Social Media verbindet. Die Gesprächspartner:innen nutzen ein akademisch geprägtes Vokabular, verzichten jedoch weitgehend auf Quellenbelege und belassen viele ihrer historischen und soziologischen Behauptungen unausgewiesen. Die Expertise beruht primär auf subjektiver Sichtweise, was für ein Gesprächsformat legitim, aber für analytische Schärfung manchmal zu dürftig ist. Positiv ist die konsequente Gender-Perspektive, die unterschiedliche Formen von Diskriminierung verknüpft und Mädchen-Sozialisation als gesamtgesellschaftliches Problem sichtbar macht. Kritisch anzumerken ist, dass komplexe Themen wie Suizid, sexuelle Gewalt und Rassismus in knappen Sequenzen angerissen, aber nicht tiefgehend aufgearbeitet werden, wodurch die Diskussion gelegentlich oberflächlich wirkt. Die Moderator:innen positionieren sich klar gegen rechte oder frauenfeindliche Tendenzen und fördern damit eine wertschätzende, emanzipatorische Debattenkultur. Für Hörer:innen mit Interesse an Popkultur und feministischer Theorie lohnt sich ein Hinhören – mit dem Bewusstsein, dass es sich um eine subjektive, nicht um eine journalistisch recherchierte Sendung handelt.