Was jetzt?: Spezial: Ein Tag in Gaza
Intensive Dokumentation des Alltags in Gaza einen Tag nach der massiven israelischen Evakuierungsaufforderung – erzählt durch vier zivile Protagonist:innen.
Was jetzt?
66 min read3182 min audioAm 10. September 2025, einen Tag nach der massiven israelischen Evakuierungsaufforderung für Gaza-Stadt, ruft das ZEIT-Team Menschen im Gazastreifen an, um zu erfahren, wie sie mit der Situation umgehen. Die Redaktion begleitet vier Betroffene: den 80-jährigen Mohammed Khatab, der seinen Sohn zum Lebensmittelverteilzentrum zurückholen will; die 19-jährige Malak, die trotz Bombardements Uni-Prüfungen in einem Co-Working-Space vorbereitet; die 33-jährige Alaa Albana, die ihrer Tochter beibringt, die jüngeren Geschwister zu versorgen, falls sie stirbt; und den 23-jährigen Medizinstudenten Jamil, der statt zu lernen zu einer Beerdigung muss. Die Geschichten zeigen, dass neben der Frage „Gehen oder bleiben?“ alltägliche Probleme wie Essensverteilungen, bei denen Hunderte Menschen getötet wurden, im Mittelpunkt stehen.
### 1. Essensverteilungen als tödliche Risikozonen
Die israelische Armee kontrolliert vier Verteilstellen im Gazastreifen. Dort stünden sich laut UN-Angaben seit zwei Monaten 859 Tote gegenüber, während Menschen um Reis und Makkaroni kämpfen. Bashar (18) schleicht sich nachts los, um Nahrungsmittel zu ergattern; sein Vater Mohammed Khatab nennt das Zentrum deshalb „Todesverteilungszentrum“. (Zitat: „ein Mann hat ihn mit einem Messer bedroht und ihm das Essen weggenommen“)
### 2. „Gehen oder bleiben“ ist nur scheinbar die zentrale Frage
Obwohl eine Million Menschen in Gaza-Stadt aufgefordert wurden, sofort Richtung Süden zu fliehen, spielen für die Interviewten alltägliche Probleme die größere Rolle: Uni-Prüfungen, Essensbeschaffung oder Vorbereitung auf den Tod der Mutter. Die Evakuierungsdrohung bleibe präsent, bestimme aber nicht jede Stunde des Alltags.
### 3. Zerstörte Infrastruktur zwingt zu kreativen Lösungen
Malak nutzt einen Coworking-Space, weil es an der Uni keine Hörsäle mehr gebe. Der Besitzer Rami Bolbol frage sich, ob er das Gebäude verlassen solle; ohne stabiles Internet könne sie ihre Online-Prüfung nicht ablegen. Der Mangel an Räumlichkeiten treibe selbst Prüfungsvorbereitungen in Sicherheitszonen.
### 4. Familien planen den Tod der Eltern, um die Kinder zu schützen
Alaa Albana zeigt ihrer Tochter Tala (12), wie man Babynahrung mischt und Geschwister wäscht. Sie wolle sicherstellen, dass die Kinder überleben, „falls sie selbst getötet wird“. Diese Vorbereitung auf den eigenen Tod werde zur Alltagserziehung.
### 5. Medizinstudium im Krieg: Beerdigung statt Bücher
Jamil muss am Vormittag seines Lernplans die Beerdigung eines Verwandten organisieren. Der 23-Jährige hofft, später Anästhesist zu werden; stattdessen kümmere er sich um Leichenschau und Trauerzeremonie.
### 6. Deutsche Lebensrealität als Erinnerung und Kontrast
Mohammed Khatab lebte in den 1960er-Jahren in Garmisch-Partenkirchen und studierte Medizin in Bochum und Düsseldorf. Er sage: „Deutsch ist meine zweite Heimat… meine Mentalität ist deutsche Mentalität. Ich hasse alles, was nicht richtig läuft.“ Diese Biographie verstärke seine Wut über das Chaos in Gaza.
## Einordnung
Die ZEIT-Folge zeigt kein klassisches Reporter-Format, das Politiker:innen oder Militärs befragt; stattdessen setzt sie vollständig auf dokumentarisches Erzählen aus der Zivilbevölkerung. Die Produktion nutzt Monate angelegte Telefon-Kontakte, sodadurch glaubwürdige Alltagsdetails entstehen. Besonders bemerkenswert ist das Momentaufnahmen-Prinzip: vier parallele Handlungsstränge an einem einzigen Kriegstag, wodurch die Komplexität jenseits der Schlagzeile „Evakuierung“ sichtbar wird. Kritisch anzumerken: Israelische Perspektiven fehlen vollständig; militärische Begründungen für Schüsse an Verteilstellen bleiben unkommentiert. Die Redaktion verzichtet auf Experten:innen-Kommentare zu Völkerrecht oder Evakuierungs-völkerstrafrecht, sodass die Hörer:innen keine juristische Einordnung erhalten. Die narrative Technik, Palästinenser:innen selbst zu Wort kommen zu lassen, hebt sich positiv von oft abstrakten Medienberichten ab; sie erzeugt Nähe, ohne voyeuristisch zu wirken. Gleichzeitig bleibt die Frage offen, wie repräsentativ die vier Schicksale für die Gesamtbevölkerung sind. Insgesamt liefert die Episode bewegende Mikro-Geschichten, die die humanitäre Katastrophe erfahrbar machen – mit kleinen Lücken in der politischen Einbettung.
Hörempfehlung: Ja – wer die Kriegsrealität jenseits von Polit-Talk verstehen will, erhält hier intensive, sorgfältig recherchierte Alltagsberichte.