Aftenpodden: ADHD: Sykeliggjør vi det normale?
Die norwegische Psychiaterin Henriette Kirkaune Sandven über den ADHS-Boom, überdiagnostik und die Folgen für Kinder und Gesellschaft.
Aftenpodden
3770 min audioKontext: In der norwegischen Aftenposten-Podcast-Reihe Extra Lars spricht der politische Journalist Lars Glomnes mit der Kinder- und Jugendpsychiaterin Henriette Kirkaune Sandven über die explodierende Zahl von ADHS-Diagnosen in Norwegen.
Hauptsprecher:innen: Lars Glomnes (Moderator), Henriette Kirkaune Sandven (Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie).
Hauptthema: Die zunehmende Diagnosefalle „ADHS“ – wie aus ursprünglich schweren Fällen eine breite Massen-Diagnose wurde, was das für Kinder, Eltern und das Gesundheitssystem bedeutet.
### 1. Die ADHS-Diagnose ist in Norwegen seit 15 Jahren fast verdoppelt worden
Die Zahl der Verdachtsüberweisungen zur Kinder- und Jugendpsychiatrie (BUP) hat sich seit der Pandemie „explosionsartig“ erhöht, sagt Sandven. Insgesamt nehmen derzeit rund 55 000 Mädchen und Frauen sowie 55-60 000 Jungen und Männer ADHS-Medikamente ein. Die Diagnose werde „im Grauen“ zwischen Normverhalten und klarer Störung zunehmend leichter ausgesprochen.
### 2. Viele Kinder wachsen laut Studien „hinein und wieder hinaus“
Über die Hälfte der in der Kindheit diagnostizierten Kinder erfülle im Erwachsenenalter keine Kriterien mehr. Sandven plädiert daher für eine zeitlich begrenzte Diagnose als „Kindheitszustand“, vergleichbar mit Kinderasthma oder Kinderepilepsie, das mit Reifung verschwindet. Späteste Auswertungen zeigten: Je nach Bundesland bekommen doppelt so viele Kinder die Diagnose – trotz gleicher Symptomstärke.
### 3. Die Medikamente wirken bei 80 % der Bevölkerung – das ist kein Beweis für ADHS
Die zentralerregenden Mittel (Methylphenidat) machen laut Sandven „fast jeden konzentrierter“, weil sie ein Amphetamin-Derivat sind. Die frühere „Wenn-das-Medikament-wirkt-hat-man-die-Krankheit“-Logik sei wissenschaftlich nicht haltbar. Das erkläre auch, warum Erwachsene mit gutem Einkommen und festem Job plötzlich „ADHS-Symptome“ entwickeln und eine Rezept-Befreiung suchen.
### 4. Soziale Medien und Schulpolitik fördern Selbstdiagnosen
TikTok-Videos („Ich habe Schlafparalyse“) oder Promi-Outings (Billie Eilish über Tourette) ließen kurzfristig Symptome und Überweisungen in Wellen ansteigen. Gleichzeitig verlange die norwegische Reform, sechsjährige bereits zur Schule zu schicken – das führe zu „Ungeduld-Klassen“ und mehr Auffälligkeiten bei den jüngsten, noch unreifen Kindern. Die Folge: „Je später im Jahr Geburtstag, desto häufiger ADHS-Diagnose.“
### 5. Private Kliniken und Versicherungen profitieren vom Diagnose-Boom
Eine ADHS-Schnell-Testung koste umgerechnet 3 000 Euro, oft mit Rezept am selben Tag. Versicherungen zahlten bei „erheblicher Funktionseinschränkung“ bis zu 150 000 Euro aus, Studenten bekämen monatlich 450 Euro „Behinderungs-Stipendium“. Die Diagnose sei damit zu einem „wirtschaftlichen Anreiz“ geworden, der die Nachfrage weiter befeuere.
### 6. Die Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens gehen in der Masse verloren
Weil Kapazitäten fehlten, würden die „schwer erreichbaren“ Kinder – etwa aus suchtbelasteten Familien – seltener behandelt. Stattdessen kommen die „gut funktionierenden“ Mittelschicht-Eltern mit ihren Kindern zur Sprechstunde und erhalten rasch Rezepte. Die Gefahr: Die wirklich Betroffenen („Zehner auf der Schwere-Skala“) verloren sich im Strom der „Neuner und Achter“.
## Einordnung
Die Sendung wirkt wie ein investigatives Feature in eigener Sache: Glomnes lässt Sandven in Ruhe argumentieren, führt aber mit charmant-schnellen Gegenfragen genau dort, wo die Kontroverse brennt. Besonders gelungen: Die Expertin wird nicht zum „Alles-wurde-besser-Früher“-Bannerträger gemacht, sondern selbstkritisch mit ihrer eigenen Mitverantwortung als verschreibende Ärztin konfrontiert. Der Podcast zeigt die Grenzen eines rein medizinischen Blicks auf: Wenn sich Schul-, Sozial- und Wirtschaftspolitik in einer einzigen Diagnose verketten, reicht es eben nicht, „mehr BUP-Stellen“ zu fordern. Stilistisch wechseln sich längere Erklärungen mit persönlichen Alltagsbeobachtungen, was dem Gespräch Authentizität, aber auch Länge gibt. Die Macher:innen verzichten konsequent auf eine Wertung, liefern aber genug Zahlen und Zitate, um die Hörer:innen selbst urteilen zu lassen. Es bleibt ein beunruhigendes Gefühl: Die Diagnose ist längst Teil des Problems geworden – und niemand kann sie mehr allein zurücknehmen.
Hörempfehlung: Ja – wenn du wissen willst, warum plötzlich jede:r Zweite „ein bisschen ADHS“ zu haben glaubt und was das mit unserem Bild von Normalität macht.