Kontext und Sprecher: Agata Kasprolewicz führt durch die Literatursendung „Raport o książkach“ im Rahmen des Nachrichtenpodcasts „Raport o stanie świata“ von Dariusz Rosiak. Zu Gast ist der polnische Schriftsteller, Publizist, Philosoph und Historiker Paweł Rzewuski, der über seinen historischen Horror-Roman „Krzywda“ spricht. Das Gespräch ist ein journalistisches Format mit professionellem Anspruch. Hauptthema: Die Episode widmet sich der literarischen Rekonstruktion der polnisch-litauischen Adelsrepublik (Rzeczpospolita Obojga Narodów) in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts – einem vielschichtigen, multiethnischen und multireligiösen Staatswesen, das heute oft ideologisch vereinnahmt wird. ### 1. Die Adelsrepublik war ein multiethnisches, multireligiöses Großreich Rzewuski betont, die historische Gemeinschaft sei ein „riesiger Staat“ von fast einer Million Quadratkilometern gewesen, in dem „sehr viele Kulturen und sehr viele Nationen“ zusammenlebten – darunter Polen, Litauer, Ruthenen, Deutsche, Armenier, Tataren und Juden. Er verwendet dafür das deutsche Wort „jain“, weil Identitäten fließend seien: „Ich bin Pole, bedeutet, ich bin Adliger; ich bin Litauer, bedeutet, ich bin Bürger des Großfürstentums Litauen; ich bin Russe, bedeutet, ich bin orthodoxen Glaubens.“ ### 2. Religiöse Vielfalt und Machtkämpfe prägten das 17. Jahrhundert Die erste Hälfte des 17. Jh. sei eine Blütezeit religiöser Toleranz gewesen: Katholiken, Protestanten (Lutheraner, Kalvinisten, Arianer), Orthodoxe, Juden und Muslime hätten nebeneinander existiert. Die Arianer – ein radikaler protestantischer Zweig – hätten sogar soziale Gleichheit und Gewaltenteilung gefordert, seien aber von Katholiken und Protestanten gleichermaßen geächtet worden. ### 3. Adel, Bauern und ständische Sozialstrukturen waren weniger starr, als oft dargestellt Rzewuski widerspricht der populären Gegenüberstellung „reiche Adlige versus unterdrückte Bauern“. Es habe „freie Bauern“ an der Weichselmündung gegeben, während „arme Adlige“ existierten, die sogar „Roboter“ leisten mussten. Auch sei sozialer Aufstieg möglich gewesen: Bauern seien durch Kriegsbeute adlig geworden, andere hätten sich einfach adlig gegeben, weil niemand die Herkunft prüfte. ### 4. Die Erzählstruktur nutzt Horror-Elemente, um gesellschaftliche Ungleichheit sichtbar zu machen Das Buch folge der Tradition adliger „Gawe“ (Erzählrunden), in der Gespenster, Werwölfe und Vampire vorkommen. Die übernatürlichen Figuren seien jedoch „Verdichtungen dessen, was in der Seele der Hauptfiguren vorgeht“. Besonders Frauenfiguren erlangen erst nach dem Tod als Rachegeister eine Stimme, was die begrenzte historische Handlungsfähigkeit von Frauen thematisiert. ### 5. Die Debatte über die Adelsrepublik spiegelt heutige Identitätskämpfe Kasprolewicz und Rzewuski diskutieren, wie sehr das 17. Jh. heute ideologisch vereinnahmt wird: 19.-Jh.-Romantiker wie Sienkiewicz hätten die Epoche zur nationalen Erbauung genutzt; gegenwärtige Historiker*innen nutzten sie, um „koloniale Ausbeutung“ und polnische „Erbsünden“ zu thematisieren. Rzewuski plädiert für eine nuancierte Sicht: „Jain – so und doch nicht so“. ## Einordnung Die Sendung besticht durch ihr hohes Niveau: Kasprolewicz lässt ihren Gesprächspartner ausgiebig zu Wort kommen, stellt Folgefragen und vermeidet simple Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Rzewuski liefert eine differenzierte, quellenbasierte Gesellschaftsgeschichte, die gängige Mythen adelt oder dekonstruiert, ohne in billige Aufklärer-Rhetorik zu verfallen. Besonders bemerkenswert ist die Selbstreflexion über die Rolle von Literatur und Geschichtsschreibung in aktuellen Identitätsdebatten: Weder wird die polnische Adelsrepublik zur nationalen Ikone verklärt noch als „koloniale Diktatur“ diffamiert – beide Extreme werden verworfen. Der Podcast bietet damit ein Vorbild für historische Gesprächskultur: Er zeigt, wie man mit Fakten, Nuancen und einer klaren Sprache gesellschaftlich brisante Themen diskutieren kann, ohne Populismus oder Geschichtsklitterung Raum zu geben.