Le masque et la plume: Catherine Millet, Sorj Chalandon, Rebeka Warrior, Amélie Nothomb, Sigrid Nunez, que lire cette semaine ?
Literarische Streitgespräche über aktuelle Romane zur Saison 2025 in Frankreichs traditionsreicher Kritikerrunde.
Le masque et la plume
3108 min audioIn der französischen Literatursendung "Le Masque et la Plume" (Die Maske und die Feder) besprechen vier Kritiker:innen aktuelle Romane der Saison. Rebecca Manzoni leitet die Runde, zu Gast sind die Literaturkritiker:innen Arnaud Viviant, Patricia Martin, Raphaëlle Leyris und Alice Develey.
### 1. Koloniale Kinderhaft: Historisches Verbrechen als spannender Pageturner
Sorj Chalandons Roman "L’Enragé" erzählt die wahre Geschichte der Revolte von 100 Jungen in der Strafkolonie Belle-Île-en-Mer im Jahr 1934. Arnaud Viviant lobt die Mischung aus akribischer Recherche und spannender Erzählung: "Il y a un côté un peu Indiana Jones de la littérature qui fait qu’on va avec lui dans les soutes du monde". Die Kritiker:innen streiten darüber, ob der Stil zu akademisch oder gerade dadurch mitreißend ist.
### 2. Mutter ohne Mitgefühl: Catherine Millet bricht mit ihrem eigenen Stil
In "Le syndrome de la vitre" wechselt Catherine Millet von sachlicher Distanz zu emotionaler Nähe. Patricia Martin betont die "très pudique" Art, wie Millet ihrer depressiven Mutter begegnet: "Elle nous raconte son enfance dans ce pavillon de la banlieue parisienne… sans pathos". Der Perspektivwechsel der Autorin irritiert die Kritiker:innen positiv.
### 3. Literarische Mechanik vs. Gefühlsnähe: Kontroverse um Chalandons Erzählstrategie
Während Arnaud Viviant die "écriture de la rage" feiert, wirft Patricia Martin der Prosa vor, „absolument parfaitement huilée“ zu sein und überrascht zu fehlen. Raphaëlle Leyris bemängelt, der Held bleibe zum „archétype du mauvais garçon“ reduziert. Die Debatte zeigt, wie unterschiedlich literarische Wirkung gemessen wird.
### 4. Geschichtspolitik der Gefühle: Erinnerung an missbrauchte Kinder
Die Besprechung von „L’Enragé" lenkt den Blick auf ein tabuisiertes Kapitel französischer Geschichte: Kinder, die in Strafkolonien eingesperrt wurden. Alice Develey hebt hervor, viele Leser:innen kannten diese Mutiny gar nicht. Die Diskussion verortet das Thema in aktuellen Debatten über Jugendgefängnisse und fragt nach den Folgen institutioneller Gewalt.
## Einordnung
Die Sendung demonstriert gelebte Streitkultur: Die Kritiker:innen äußern deutliche Gegensätze, bleiben dabei aber sachlich und respektvoll. Besonders bemerkenswert ist das Spannungsfeld zwischen dokumentarischem Anspruch und ästhetischem Genuss – die Frage, ob historisches Grauen filmreif erzählt werden darf, wird kontrovers verhandelt. Gleichzeitig bleiben Perspektiven der damaligen Betroffenen ausgeblendet; die Debatte fokussiert stark auf die literarische Verarbeitung durch erfolgreiche Autoren. Insgesamt bietet die Folge eine kompakte, konzentrierte Auseinandersetzung mit aktuellen Werken, die ohne Hype auskommt und den Hörer:innen klare Entscheidungshilfen für ihre Lektüre gibt.