Der Deutschlandfunk-Podcast "Der Rest ist Geschichte" widmet sich in dieser Folge den Nürnberger Prozessen von 1945 und ihrer Bedeutung für das moderne Völkerstrafrecht. Moderator Jörg Biesler führt dazu Interviews mit den Rechtsexperten Christoph Safferling und Alexa Stiller. ### 1. Die Nürnberger Prozesse als Geburtsstunde des individuellen Völkerstrafrechts Die Prozesse hätten erstmals Individuen – auch Staatsoberhäupter – für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen gegen den Frieden zur Verantwortung gezogen. Safferling betont: "Das war jedenfalls das historische Ereignis, an dem das zum ersten Mal durchgeführt worden ist." ### 2. Die temporäre Natur der Nürnberger Prinzipien Stiller erklärt, dass die damals geschaffenen Straftatbestände "eher als temporär gedacht" gewesen seien. Die Nürnberger Prinzipien seien zwar von der UN-Generalversammlung 1946 anerkannt worden, aber nie offiziell bestätigt worden. ### 3. Die politische Instrumentalisierung der Prozesse Die Experten zeigen, wie stark politische Interessen die Prozesse beeinflusst hätten. Die Sowjetunion habe "ein stark politisiertes Verfahren" gewollt, während die USA den Tatbestand der Verschwörung fokussiert hätten. Die Verteilung der Anklagepunkte auf die Alliierten zeige deutlich unterschiedliche politische Prioritäten. ### 4. Die Lückenhaftigkeit der internationalen Strafverfolgung Trotz des internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag blieben viele Kriegsverbrecher unbehelligt. Safferling konstatiert: "Die Vereinigten Staaten von Amerika, die russische Föderation, China, Indien, Israel, das sind alles nicht Mitgliedstaaten" – was die Wirksamkeit des Gerichts massiv einschränke. ### 5. Die historische Kontinuität des Scheiterns Die Episode zeichnet eine durchgehende Linie des Scheiterns: vom Versailler Vertrag 1919 über die Leipziger Prozesse bis zu den aktuellen Konflikten in Ukraine und Gaza. Die internationale Strafverfolgung bleibe "eine vergleichsweise schwierig umzusetzende Sache". ### 6. Das Spannungsfeld zwischen Recht und Moral Die Experten diskutieren das Rückwirkungsverbot und die Radbruchsche Formel. Hannah Arendt und andere hätten betont, dass die moralische Notwendigkeit die rechtlichen Formalien überwiege – "die Moral wird eigentlich den rechtlichen Formalien überstellt". ## Einordnung Die Folge präsentiert sich als sorgfältig recherchierte historische Analyse mit hohem journalistischen Anspruch. Die Expertinnen und Experten bekommen ausreichend Raum für differenzierte Einschätzungen, ohne zu moralisieren. Besonders bemerkenswert ist die Offenheit, mit der die politischen Kompromisse und Machtstrukturen hinter den scheinbar rein juristischen Prozessen aufgedeckt werden. Die Sendung vermeidet es, die Nürnberger Prozesse als reinen Fortschritt zu feiern, sondern zeigt ihre Ambivalenz: Sie seien gleichzeitig Meilenstein und gescheitertes Versprechen. Die Perspektive bleibt dabei klar eurozentrisch – die Sichtweisen der globalen Mehrheit bleiben marginalisiert. Dennoch gelingt es der Sendung, die komplexe Wechselwirkung von Recht, Politik und Macht anschaulich zu vermitteln. Hörempfehlung: Wer eine fundierte, nüchterne Auseinandersetzung mit der Geschichte des Völkerstrafrechts sucht, bekommt hier eine hervorragende Einführung – ohne Beschönigung, aber mit klarem Blick für historische Zusammenhänge.