Víðsjá: Bensínstöðin Ægissíðu 102, Draugamandarínur, Íbúð 10B / rýni
Vom Abriss bedroht, jetzt Modernismusschatz: Der isländische Kulturpodcast begleitet die Rettung der futuristischen Tankstelle Ægissíða 102 und lotet dabei die Grenzen zwischen Nutzen, Nutzung und kulturellem Erbe aus.
Víðsjá
42 min read3267 min audioKontext: Víðsjá ist ein isländischer Kulturpodcast von Halla Harðardóttir und Melkorka Ólafsdóttir, der sich mit aktuellen kulturellen Themen, Architektur, Literatur und Theater beschäftigt. In dieser Folge geht es um den Erhalt der futuristischen Tankstelle von 1977 an der Ægissíða 102 in Reykjavík, die einst abgerissen werden sollte, nun aber als Modernistisches Kleinod gelten könnte. Halla spricht mit der städtischen Denkmalpflegerin Henný Hafsteinsdóttir direkt vor Ort über Form, Funktion und mögliche Zukunft des Bauwerks. Daneben stellt die Lyrikerin Birgitta Björg Guðmarsdóttir ihre neue Gedichtsammlung "Draugamandarínur" vor und Theaterkritiker Trausti Ólafsson bespricht das Stück "Íbúð 10B" im Nationaltheater.
Hauptthema: Die Rettung der spätmodernen Tankstelle Ægissíða 102 – ein Beispiel dafür, wie funktionale Industriearchitektur als Kunstwerk wiederentdeckt und durch Bürgerinitiativen vor dem Abriss bewahrt werden kann.
### Kernpunkte
### 1. Die Tankstelle als „Skulptur aus Beton“
Henný Hafsteinsdóttir beschreibt das Gebäude als „eigentlich nur ein Skulptur“; die vom Wind geschwungenen Bogenwände erinnerten an einen „Käferflügel“ oder „Querschnitt durch einen Oliventank". Die ursprüngliche Sichtbeton-Optik sei durch Aluminiumplatten verdeckt, wodurch wichtige architektonische Details wie die filigranen Deckenbalken verschwinden würden.
### 2. Planungszwang als kreativer Motor
Die Auflage, keine Fenster Richtung Nachbar-Einfamilienhäuser zu bauen, habe die Architekten Guðmundur KR Kristinsson und Ferdinand Alfreðsson zu einer organischen Anordnung um einen zentralen Kern getrieben. Die heute sichtbare Rundung entstehe erst durch diese Zwangsbedingung – ein Beleg dafür, wie Restriktionen innovative Form erzeugen können.
### 3. Kein formelles Denkmalschutzverfahren
Obwohl die Denkmalpflege 2021 ein hohes Erhaltungsgutachten ablieferte und „Hverfisvernd“ (Ensembleschutz) empfahl, liegt dem Bauamt bislang kein Antrag auf Abriss oder Umgestaltung vor. Die Besitzer:innen haben drei Architekturbüros um Ideenskizzen gebeten; der Siegerentwurf von Trípolí sehe eine Beibehaltung des Bestands vor – allerdings in noch unveröffentlichter Form.
### 4. „Beste Erhaltung ist Nutzung“
Henný plädiert dafür, das Gebäude nicht starr zu konservieren, sondern neue Funktionen (Co-Working, Café, Werkstatt) einzuführen. Dabei solle man „mit Röntgenbrille und Fantasie“ bis zum architektonischen Kern vordringen und mit der ursprünglichen Idee im Dialog neue Eingriffe entwickeln.
### 5. Lyrik zwischen Mandarine und „Tekno-Break“
Birgitta Björg Guðmarsdóttir nutzt das Bild des Mandarinen-Öffnens als Metapher für körperliche und spirituelle Öffnungen. Ihr Gedichtband „Draugamandarínur“ enthält ein „Tekno-Break“: eine Unterbrechung des Flusses, bei dem „etwas aus einem herausgeschüttelt“ wird – ein stilistisches Mittel, das sie aus ihrer Tätigkeit als elektronische Musikerin übernimmt.
### 6. Theaterkritik: Reichtum als Farce
Trausti Ólafsson zeigt, wie Ólafur Jóhann Ólafssons Stück „Íbúð 10B“ gut betuchte Eigentümer:innen von Luxuswohnungen vor dem Hinterricht einer drohenden Mitgliederversammlung ins Lächerliche zieht. Die Kritik richtet sich auf die soziale Homogenität des Nationaltheaters selbst: hohe Ticketpreise, fehlende landesweite Tourneen und mangelnde Diversität im Publikum.
## Einordnung
Die Sendung zeigt, wie kulturelle und bauliche Artefakte neu verhandelt werden: Eine einstige Tankstelle wird zur Rettung dringend diskutiert, eine Mandarine zum Kristallisationspunkt poetischer Selbstöffnung und ein Wohnzimmer zur Bühne für soziale Schieflagen. Besonders gelungen ist die Balance zwischen Fachinformation und allgemeinverständlicher Erzählung: Henný erklärt architektonische Details anschaulich („Oliventank“), ohne akademisch zu klingen, und die Moderator:innen lassen ihre Gesprächspartner:innen ausführlich zitieren. Kritisch anzumerken ist, dass die soziale Kritik an teuren Theaterkarten nur angerissen wird, nicht aber Perspektiven zugelassener oder finanziell ausgeschlossener Menschen vorkommen. Dennoch bietet die Folge eine unterhaltsame und informative Reise durch isländische Gegenwartskultur, die Lust auf weitere Ausgaben macht.
Hörempfehlung: Wer Island jenseits von Natur gewalt und Pferden kennenlernen will, erhält hier einen einfühlsamen und klugen Einblick in Architektur-, Literatur- und Theaterdiskurse – mit viel Platz für persönliche Anekdoten und kreative Überschneidungen.