Mittelweg 36: Brauchen wir das Normalarbeitsverhältnis?
Die Soziologin Nicole Mayer-Ahuja zeigt, wie Leiharbeit, Befristung und Co. Betriebe ermöglichen, Klassenverhältnisse neu zu formen – und fordert ein „neues Normalarbeitsverhältnis“.
Mittelweg 36
51 min read2813 min audioIm Gespräch mit Jens Bisky erläutert die Göttinger Soziologieprofessorin Nicole Mayer-Ahuja die zentrale These ihres neuen Buches: Deutschland sei eine „Klassengesellschaft“, weil mehr als 90 % aller Erwerbstätigen auf Lohn angewiesen seien. Dabei zeige sich, dass Klasse kein statisches Konstrukt sei, sondern sich ständig in Arbeitsprozessen neu forme – etwa durch Leiharbeit, Befristung oder Outsourcing, die Betriebe gezielt nutzen, um Belegschaften zu spalten. Mayer-Ahuja plädiert für ein „neues Normalarbeitsverhältnis“ mit kollektiven Standards wie einer 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, um Überstunden- und Armutsrisiken zu reduzieren. Entscheidend sei, dass sich abhängig Beschäftigte trotz unterschiedlicher Statuslagen (Vollzeit, Teilzeit, Minijob, Leiharbeit) gemeinsame Erfahrungen wie Fremdbestimmung und Verlustangst bewusst machen und dementsprechend solidarisch organisieren. Die Politik fordert sie auf, Arbeitszeit und soziale Sicherung neu zu verhandeln, statt „es geht nicht anders“ zur Maxime zu erheben.
### 1. Klasse als Verhältnis, nicht als Schublade
Mayer-Ahuja wendet sich gegen statische Klassenschemata à la Daniel Oesch; Klasse entstehe erst im sozialen Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Sie betont: „Klasse ist kein Ding“; vielmehr müssten Forschung wie Politik die ständige Neuverhandlung von Macht und Kontrolle im Betracht ziehen.
### 2. Leiharbeit als strategisches Spaltungsmodell
Die weitgehende Tarifabdeckung von Leiharbeitenden verdanke sich einer Öffnungsklausel, die Equal Pay umgehe. Betriebe nutzen diese Regelung, um prekäre Randbelegschaften zu schaffen und Stammbelegschaften unter Konkurrenzdruck zu setzen – eine bewusste Teile-und-herrsche-Strategie.
### 3. Der Mythos Normalarbeitsverhältnis
Das klassische Normalarbeitsverhältnis habe nie für alle gegolten; Frauen, Migrant:innen und Geringqualifizierte seien stets ausgeschlossen oder zuerst betroffen gewesen. Seine normative Kraft bestehe fort: Sozialversicherung und gesellschaftliches Ansehen orientierten sich weiterhin an diesem Ideal, obwohl es für viele unerreichbar sei.
### 4. Arbeitszeit als neue Klassenfrage
Die Spaltung zwischen Vollzeit-Überstundenkräften (meist Männer) und Teilzeit-/Minijobkräften (meist Frauen) lasse sich nur über kollektive Standards wie „kurze Vollzeit“ überwinden. Beide Gruppen wünschen sich laut Umfragen vergleichbare Wochenarbeitszeiten von rund 30 Stunden bei gleichem Lohnniveau.
### 5. Solidarität ist Ergebnis von Politik
Ob sich Beschäftigte als gemeinsame Klasse wahrnehmen, hänge von Aushandlungsprozessen ab: Gewerkschaften müssten Branchengrenzen überschreitende Forderungen aufnehmen, Betriebsräte dürften Randgruppen nicht isolieren, und der Staat müsse soziale Sicherheit auf neue Realitäten umstellen.
## Einordnung
Das Gespräch besticht durch klare Argumentationslinien und historische Einbettung. Mayer-Ahuja gelingt es, komplexe soziologische Konzepte (Klasse als relationales Verhältnis, Verallgemeinerung von Lohnarbeit, Reproduktionskrise) in zugänglicher Sprache zu vermitteln, ohne dabei oberflächlich zu bleiben. Besonders wertvoll: Sie benennt konkrete Machtmechanismen in Betrieben (Leiharbeit, Racial-Management-Techniken) und zeigt, wie diese die Wahrnehmung von Gemeinsamkeit systematisch untergraben. Der Podcast bietet damit keine einfachen Lösungen, sondern eine analytische Landkarte für Arbeits- und Sozialpolitik. Kritisch anzumerken: Die Rolle digitaler Plattformen oder globaler Lieferketten bleibt unerwähnt, und zu kurz kommen Perspektiven von Selbständigen oder Menschen ohne Aufenthaltsstatus. Dennoch liefert die Sendung eine fundierte Grundlage, um über neue kollektive Standards jenseits des klassischen Normalarbeitsverhältnisses nachzudenken.
Hörempfehlung: Wer verstehen will, warum „flexibel“ oft mehr Druck bedeutet als Freiheit und welche politischen Konflikte hinter Arbeitszeitdebatten stecken, erhält hier eine präzise Analyse sowie konkrete Ansatzpunkte für gewerkschaftliche und gesellschaftliche Auseinandersetzungen.