FREIHEIT DELUXE mit Jagoda Marinić: Lea Ypi – Aufrecht (Deutsche Übersetzung)
Philosophin Lea Ypi analysiert Freiheit als moralische Verantwortung – jenseits von Ideologien und Grenzen.
FREIHEIT DELUXE mit Jagoda Marinić
86 min read4889 min audio**„Freiheit ist kein Zustand, sondern der Moment, in dem wir unsere moralischen Widersprüche erkennen – und trotzdem handeln.“**
### Einordnung
Jagoda Marinićs Gespräch mit der Philosophin Lea Ypi ist ein seltenes Beispiel für einen Podcast, der politische Theorie nicht als abstraktes Glasperlenspiel inszeniert, sondern als lebendige Erzählung über die Brüchigkeit von Gewissheiten. Ypis biografische Prägung – aufgewachsen im isolierten Albanien des Spätkommunismus, konfrontiert mit dem neoliberalen „Ende der Geschichte“ – dient als Folie, um hegemoniale Deutungsmuster zu sezieren. Besonders eindrücklich ist, wie sie den Frame der „Freiheit“ dekonstruiert: Nicht als gegebenes Recht, sondern als *Prozess* der kritischen Distanznahme zu dem, „was uns als Freiheit verkauft wird“. Diese Perspektive bricht mit der neoliberalen Erzählung, Freiheit sei identisch mit Marktzugang oder nationaler Souveränität – und entlarvt stattdessen, wie beide Systeme (Kommunismus wie Kapitalismus) Freiheit zur Ideologie verkommen lassen.
Die Stärke des Gesprächs liegt in der Verschränkung von persönlicher Erfahrung und struktureller Analyse. Ypi vermeidet dabei den Fehler vieler Intellektueller: Sie reduziert komplexe gesellschaftliche Konflikte nicht auf individuelle Schuld („Selbstermächtigungsmythen“), sondern zeigt, wie etwa die Erzählung vom „kriminellen Migranten“ strukturelle Ungerechtigkeiten individualisiert – und damit unsichtbar macht. Kritisch anzumerken ist allerdings, dass der Podcast den Frame der „Europäischen Standards“ zwar problematisiert, aber nicht konsequent hinterfragt: Die EU erscheint bei Ypi primär als *unvollendetes Projekt* (das „neue politische Vorreiter“ brauche), nicht als strukturell verankerte Machtasymmetrie zwischen Zentrum und Peripherie. Hier reproduziert das Gespräch eine eurozentrische Hoffnung, die Ypis eigene Kritik an „falschen Versprechungen“ (etwa in Albanien) eigentlich untergraben müsste.
Für Hörer:innen lohnt sich die Episode vor allem wegen der sprachlichen Präzision, mit der Ypi hegemoniale Narrative aufbricht – etwa wenn sie die „künstliche Unterscheidung zwischen Staat und Grenze“ als moralische Doppelmoral entlarvt. Die Diskussion über Literatur als „gelebte Demokratie“ (mit ihrer Angst vor dem leeren Blatt) verleiht der politischen Theorie zudem eine emotionale Tiefe, die in akademischen Debatten selten ist.
**Hörempfehlung**: Für alle, die verstehen wollen, warum politische Apathie und rechtspopulistische Wut zwei Seiten derselben Medaille sind – und wie kritisches Denken als Gegenmittel funktionieren kann. Besonders empfehlenswert für Lehrende, die nach Beispielen suchen, wie man politische Theorie *erzählbar* macht.
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### Kernpunkte
* **Freiheit als moralische Verantwortung**
Ypi deute Freiheit nicht als Zustand, sondern als *Moment der Reflexion*: „Freiheit ist die *Ratio Essendi* des moralischen Gesetzes“ (Kant). Dieser abstrakte Gedanke werde greifbar in ihrer eigenen Biografie – etwa als sie nach 1990 erkannte, dass die kommunistische „Freiheit“ eine Lüge war, während der liberale Kapitalismus neue Unfreiheiten (Arbeitslosigkeit, Auswanderung) schuf. Freiheit sei daher stets eine *Suche*, kein Besitz.
> "Freiheit wird für uns interpretiert. Die Gesellschaft interpretiert die Gesetze und vermittelt uns ein Gefühl dafür, was Freiheit sein könnte. Und vielleicht ist das, was Freiheit wirklich ist, diese Suche nach Freiheit."
> (Übersetzung: Identisch mit Original, da bereits auf Deutsch)
* **Vom Kommunismus zum Neoliberalismus: Die Illusion des Fortschritts**
Der Zusammenbruch des Kommunismus habe in Albanien und Ostdeutschland nicht zu Freiheit geführt, sondern zu einer „Schocktherapie“, die soziale Solidarität zerstörte. Ypi vergleiche dies mit Platons Höhlengleichnis: Die Menschen hätten die „Schatten“ der Ideologie gegen die „Schatten“ des Kapitalismus getauscht – ohne zu erkennen, dass beide Systeme Freiheit als *Instrument der Kontrolle* nutzten. Die These vom „Ende der Geschichte“ (Fukuyama) entpuppe sich als neoliberale Propaganda, die Alternativen zum Kapitalismus tabuisierte.
> "Es ist leicht zu sagen, dass man unfrei gewesen ist und dann frei wurde. Tatsächlich war das die ja berühmte These vom Ende der Geschichte [...] Es gab keine ideologische Kontroverse darüber. Der Kapitalismus war die einzige Option."
* **Identitätspolitik und die Rückkehr des Nationalismus**
Ypi kritisiere, dass die Linke nach 1990 ihre sozioökonomische Kritik an der Globalisierung zugunsten von „Emanzipation durch Rechtsstaatlichkeit“ aufgegeben habe. Dadurch sei Raum für rechte Akteure entstanden, die „Gruppenzugehörigkeit“ (etwa „America First“) als Antwort auf die Krise des Kapitalismus inszenierten. Identitätspolitik sei nicht falsch, aber *unzureichend*, solange sie Klasse nur national denke – etwa wenn die deutsche Arbeiterklasse gegen Migrant:innen ausgespielt werde.
> "Man kann sagen, dass man sich um die deutsche Arbeiterklasse kümmert, aber unter kapitalistischen Bedingungen [...] ergibt es keinen Sinn, sich um die deutsche Arbeiterklasse zu kümmern, ohne sich auch um die Arbeiterklasse anderswo zu kümmern."
* **Europa als zynisches Versprechen**
Die EU werde in Albanien als „Mythos“ verkauft („europäische Standards“), während sie intern von Krisen zerrissen sei. Ypi illustriere dies am Beispiel Kroatiens: Der EU-Beitritt habe dort zu einer Deregulierung geführt, die lokale Schutzgesetze (etwa im Tourismus) aushebelte – zugunsten von Investoren, die nun die Küste aufkauften. Die EU erscheine so als „Projekt der Eliten“, das soziale Ungleichheit vertiefe, statt sie zu bekämpfen.
> "In Albanien sprechen wir davon, dass Durrës wie Split wird. Es ist also wirklich interessant, dass es dieses Paradigma gibt [...] Entwicklung nur vorwärts gehen kann."
* **Migration: Die Normalisierung der Gewalt**
Ypi demaskiere die Doppelmoral westlicher Gesellschaften, die die Berliner Mauer moralisch verurteilten, während die Toten an der US-mexikanischen Grenze als „normal“ hingenommen würden. Die Erzählung vom „kriminellen Migranten“ lenke von strukturellen Ursachen (Klimawandel, globale Ungerechtigkeit) ab und individualisiere Schuld. Migration sei kein „Problem der Zugehörigkeit“, sondern ein *Symptom* globaler Ungleichheit.
> "Es ist nicht klar, warum Menschen mit Gewalt in einem Land festzuhalten, ein so großes Verbrechen ist, während es doch in Ordnung zu sein scheint, Menschen an der Grenze zu bekämpfen und zu töten, wenn sie versuchen in dein Land einzureisen."
* **Literatur als Gegenmittel zum Individualismus**
Ypi erkläre, warum sie Romane schreibt: Literatur beginne mit *konkreten Menschen*, nicht mit Theorien – und zeige, wie abstrakte Kategorien (Klasse, Nation) das Leben Einzelner prägen. Die Angst vor dem leeren Blatt sei dabei produktiv, denn sie zwinge zur Auseinandersetzung mit Widersprüchen. Im Gegensatz zur Philosophie, die Gewissheit suche, lebe Literatur von *Zweifeln* – und spiegle so die Unsicherheit demokratischer Debatten.
> "Literatur lebt von Zweifeln, von der Schaffung von Konflikten und von dem Versuch zu erklären, wie diese Ideen zu Dilemmata für den Einzelnen führen."
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### Sprecher:innen
* **Lea Ypi** – Philosophin (London School of Economics), Autorin („Frei“, „Aufrecht“), analysiert politische Theorie aus biografischer Perspektive.
* **Jagoda Marinić** – Schriftstellerin, Podcast-Host, moderiert das Gespräch als intellektuelle Sparringspartnerin.