Hidden Brain: The Trauma Script
Eine überraschende Reise durch die Wissenschaft der Resilienz – und warum wir Menschen oft stabiler sind, als wir denken.
Hidden Brain
55 min read3013 min audioDer Hidden Brain-Podcast mit Shankar Vedantam widmet sich in dieser Folge der Frage, wie Menschen tatsächlich auf Verlust und Trauma reagieren – im Gegensatz zu kulturellen Erwartungen. Hauptgast ist der Psychologe George Bonanno von der Columbia University, der seit Jahrzehnten Resilienzforschung betreibt.
### Die meisten Menschen seien widerstandsfähiger als gedacht
Bonanno berichtet, dass in rund hundert Studien die Mehrheit der Betroffenen nach schweren Ereignissen – vom Tod eines Angehörigen bis zu schweren Unfällen – innerhalb weniger Wochen wieder stabil funktioniere. Dies gelte auch für 9/11 und die COVID-Pandemie, bei denen die befürchteten massenhaften Traumafolgen ausblieben: „Most people experience short-term distress, upheaval, and then they continue to function normally after that.“
### Die Trauer-Stufen-Theorie sei wissenschaftlich nicht gedeckt
Die populäre Annahme, Trauer verlaufe in festen Phasen (z. B. nach Kübler-Ross), werde durch Daten nicht gestützt. Bonanno betont: „There's not been really any evidence that it's actually what people go through.“ Die Vorstellung, Trauer müsse schmerzhaft und lang sein, führe eher zu unnötigem Leid, wenn Menschen sich „nicht richtig betrauern“ fühlten.
### Kulturelle Narrative überschätzen menschliche Fragilität
Bonanno kritisiert eine gesellschaftliche Tendenz, Menschen als „leicht zerbrechlich“ zu sehen. Dies zeige sich in Phänomenen wie Trigger-Warnungen, die laut Studien eher schaden als helfen: „People who are given trigger warnings often are more anxious than people who didn't receive them.“
### Therapeut:innen überschätzten Traumahäufigkeit
Da Therapeut:innen überwiegend Menschen mit langanhaltenden Problemen sehen, werde Traumatisierung in der Allgemeinbevölkerung systematisch überschätzt. Bonanno habe jahrelang Widerstand erlebt, als er auf die hohe Rate natürlicher Resilienz hinwies: „Therapists would come up to me […] and tell me, you know, I'm sure you're a good scientist, but you're just wrong about this.“
### Flexibilität sei der Schlüssel zur Resilienz
Als zentraler Faktor für gelingende Bewältigung identifiziert Bonanno „behavioral flexibility“ – die Fähigkeit, situationsangemessen zu reagieren. Dies sei wichtiger als spezifische Persönlichkeitsmerkmale.
## Einordnung
Die Episode zeigt Hidden Brain in seiner journalistischen Stärke: komplexe wissenschaftliche Erkenntnisse werden zugänglich vermittelt, ohne zu vereinfachen. Vedantam führt durchs Gespräch mit klarer Struktur, stellt kritische Nachfragen und integriert persönliche Geschichten, ohne sich in Spekulationen zu verlieren. Besonders bemerkenswert ist die selbstreflexive Haltung: Bonanno nutzt seine eigene Lebensgeschichte nicht als Beleg, sondern als Einladung, gängige Annahmen zu hinterfragen. Die Folge wirft einen wichtigen Blick auf die Diskrepanz zwischen kulturellen Erwartungen und empirischen Befunden – ohne dabei Leid zu relativieren oder Betroffene zu beschwichtigen. Es gelingt eine differenzierte Auseinandersetzung mit einem hochsensiblen Thema, die weder Pathologisierung noch Leidverharmlosung betreibt.