Der Rest ist Geschichte: Die Bahn - Es war einmal eine Zukunftstechnologie

Eine historische Spurensuche erklärt, wie die deutsche Eisenbahn vom profitablen Zukunftsverkehrsmittel zum chronisch verspäteten Sorgenkind wurde.

Der Rest ist Geschichte
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In der Folge "Der Zug zu spät, das Klo verstopft, der Schaffner blöd: Die Bahn regt heute viele auf" sprechen die Moderator:innen Tran und Anh mit den Historikern Niklas Weber und Christopher Kopper über die 200-jährige Geschichte der deutschen Eisenbahn. Der Deutschlandfunk-Podcast spannt einen weiten Bogen von der ersten deutschen Bahnstrecke 1835 bis zur heutigen Dauerkrise der Deutschen Bahn AG. ### Die Eisenbahn sei ursprünglich ein Monopol und hochprofitabel gewesen Die deutschen Eisenbahnen hätten "ziemlich gut funktioniert" und seien "tatsächlich gewinnbringend" gewesen, erklärt Wirtschaftshistoriker Christopher Kopper. Die Bahn habe beim Transport "praktisch bis zum Durchbruch des Pkw als Massenverkehrsmittel, bis also in die 50er Jahre, faktisch ein Monopol" besessen und daher "immer kostendeckende Preise erwirtschaften" können. ### Schon damals habe es ein rigoroses Klassensystem gegeben Die Bahn sei von Anfang an eine "Gesellschaftsmaschine" gewesen, die soziale Unterschiede widerspiegelte, so Historiker Niklas Weber. Es habe meist drei bis vier Klassen gegeben: "Die große Masse fährt in der vierten Klasse", die oft aus "offenen Wägen" bestanden hätten, "die haben auch kein Dach". Diese Klassentrennung sei "nach kurzer Zeit" immer "rigoroser" geworden. ### Die Reichsbahn habe den Holocaust logistisch ermöglicht Die Deutsche Reichsbahn habe sich als "unpolitischer Dienstleister" verstanden, sei aber bereit gewesen, "sich den neuen Machthabern anzupassen", erklärt Kopper. Der "Völkermord an circa 6 Millionen Juden" wäre "ohne die Reichsbahn nicht möglich gewesen". Die Bahn habe "praktisch alle jüdischen Deutschen" sowie "fast drei Millionen" Juden aus dem besetzten Polen in die Vernichtungslager deportiert. ### Nach dem Krieg seien die Reichsbahnbeamten unbehelligt geblieben Trotz ihrer Beteiligung am Holocaust sei "kein einziger Reichsbahnbeamter" verurteilt worden. Die Alliierten hätten die Eisenbahner gebraucht, um "den Verkehr wieder in Gang zu setzen". Fast alle Direktoren seien "zunächst mal im Amt" geblieben, einige nur kurzzeitig entlassen und dann wieder eingesetzt worden. ### Der Niedergang habe in den 1950er Jahren begonnen Seit den 50er Jahren habe die Bundesbahn "kontinuierlich steigende Verluste" gemacht, weil sie "nicht mehr die Überschüsse erzielen" konnte, um unrentable Strecken zu querfinanzieren. Die Bahn habe durch die Massenmotorisierung ihre "zahlungskräftigsten Kunden" verloren, musste aber weiterhin gemeinwirtschaftliche Aufgaben erfüllen. ### Die Bahnreform 1994 habe das Problem verschärft Der Versuch, die Bahn zu privatisieren, sei letztlich gescheitert, habe aber bleibende Schäden hinterlassen. Um "rentabel" zu werden, habe die Bahn "Investitionen reduziert" und die "Unterhaltung ihres Schienennetzes" vernachlässigt. Deutschland investiere heute nur 115 Euro pro Kopf ins Schienennetz, während die Schweiz "mehr als das Vierfache" ausgebe. ## Einordnung Die Folge bietet eine fundierte historische Einordnung der deutschen Bahngeschichte, die von zwei ausgewiesenen Experten getragen wird. Christopher Kopper und Niklas Weber liefern differenzierte Analysen, die sowohl technische als auch gesellschaftliche Aspekte der Eisenbahnentwicklung beleuchten. Besonders wertvoll ist die Kontextualisierung aktueller Bahnprobleme in einem 200-jährigen historischen Bogen. Die Podcast-Macher:innen stellen die richtigen Fragen und lassen den Experten Raum für ausführliche Erklärungen. Dabei wird deutlich, dass die heutige Bahnkrise nicht nur ein technisches oder managementbedingtes Problem ist, sondern strukturelle Ursachen hat, die bis in die Nachkriegszeit zurückreichen. Die Darstellung der Bahngeschichte als "Gesellschaftsmaschine" zeigt auf, wie Verkehrsmittel gesellschaftliche Machtverhältnisse widerspiegeln und reproduzieren. Problematisch ist allerdings, dass die Rolle der Reichsbahn im Holocaust zwar sachlich korrekt dargestellt, aber in der Gesamterzählung etwas abrupt abgehandelt wird. Die nahtlose Kontinuität der Bahnbeamten nach 1945 verdient eine kritischere Bewertung. Zudem bleibt die Analyse der aktuellen Bahnprobleme etwas oberflächlich - hier hätte eine tiefergehende Diskussion über alternative Finanzierungsmodelle oder europäische Vergleiche die Einordnung bereichert. Die Folge bietet dennoch eine solide Grundlage zum Verständnis der deutschen Bahngeschichte.