Radiowissen: Nikolaus Kopernikus - Revolutionär wider Willen
Diese Radiowissen-Folge entzaubert den Mythos Kopernikus und erklärt, warum die „kopernikanische Wende“ eher ein glückliches Missverständnis war.
Radiowissen
21 min read1284 min audioDer Bayern-2-Podcast „Radiowissen“ widmet sich in dieser Folge Nikolaus Kopernikus und der Frage, ob der Domherr aus dem Ermland wirklich der kühnen Revolutionsheld war, für den ihn die Geschichte hält. Erzähler Martin Schramm und die Experten Pierre Leich (Wissenschaftshistoriker) und Martin Carrier (Wissenschaftsphilosoph) zerlegen das Heldenepos in seine Einzelteile: Sie erklären, warum Kopernikus’ Idee einer Sonne im Zentrum zunächst keine breite Wirkung entfaltete, welche physikalischen Einwände damals offen blieben und wie stark das heliozentrische Modell auf arabisch-islamischen Vorarbeiten basiert – eine Quelle, die Kopernikus selbst verschwieg. Die Sendung zeigt, dass die sogenannte „kopernikanische Revolution“ eher eine Evolution war und ihr Protagonist eher ein konservativer Denker, der antike Ideale restaurieren wollte.
### Kopernikus habe keine eigene Revolution gewollt
Carrier betont, Kopernikus habe das Mittelalter nicht beenden wollen: „Es ging ihm nicht um den Fortschritt des Menschengeschlechts, sondern ich wollte die goldene Vergangenheit bewahren.“ Die Sonne ins Zentrum zu rücken war für ihn demnach ein mathematischer Kunstgriff, um die Gleichförmigkeit der Kreisbewegungen wiederherzustellen.
### Ohne Rheticus wäre das Hauptwerk wohl nicht erschienen
Das Manuskript von „De revolutionibus“ sei gegen den Willen des Autors publiziert worden, erklärt der Erzähler. Hätte Georg Joachim Rheticus das Skript nicht „regelrecht entrissen“, wäre Kopernikus heute kaum bekannt – vergleichbar mit Aristarch von Samos.
### Die meisten mathematischen Hilfsmittel stammten aus der arabisch-islamischen Welt
Laut Leich seien „viele der mathematischen Konstruktionen und Kunstgriffe“ nicht Eigenentwicklungen, sondern aus Quellen der arabisch-islamischen Astronomie übernommen – eine Tatsache, die lange unbekannt war und erst in den 1970er Jahren erforscht wurde.
### Die bewegte Erde widersprach dem Alltagsverständnis
Carrier nennt typische Alltagsfragen: „Wenn Gegenstände auf einem bewegten Erde herabfallen, müssen die nicht hinter der Erddrehung zurückbleiben?“ Solche Einwände seien vor 500 Jahren „ernsthafte“ Hindernisse gegen die Annahme einer rotierenden und um die Sonne kreisenden Erde gewesen.
### Kopernikus blieb an Kreisbahnen fest und scheiterte an der Komplexität
Seine Originalität bestehe im Perspektivwechsel, nicht in der Bahnform. Erst Johannes Kepler habe später erkannt, dass Planeten Ellipsen beschreiben. Kopernikus habe „sich die Jahrzehnte dran abgearbeitet“ und am Ende „nicht klar“ gekommen, weil ihm zentrale physikalische Erkenntnisse fehlten.
## Einordnung
Die Sendung ist didaktisch souverän: Sie nutzt eine klassische Heldenreise als Erzählmuster, nur um sie entlang wissenschaftshistorischer Fakten Schritt für Schritt zu demontieren. Statt eines einsamen Genies entsteht das Bild eines gut vernetzten Gelehrten, der bestehende Ideen zusammenfügte, ohne sie als revolutionär zu inszenieren. Besonders gelungen ist die Verknüpfung von Alltagsphänomenen mit historischem Denken – etwa wenn erklärt wird, warum Kreisbahnen lange als „perfekt“ galten. Die Expertengespräche mit Leich und Carrier sind kurz, aber pointiert und verzichten auf überzogenen Anekdotenreichtum. Kritisch bleibt anzumerken, dass westeuropäische Traditionen im Zentrum stehen; die arabisch-islamische Astronomie wird zwar erwähnt, ihre Vertreter kommen nicht selbst zu Wort. Dennoch gelingt dem Format eine differenzierte Sicht auf Wissenschaftsgeschichte, die Hörer zum Weiterdenken anregt. Hörer:innen, die Wert auf faktenbasierte, aber unterhaltsame Geschichtswissenschaft legen, erwartet hier ein informatives 40-Minuten-Porträt mit hohem Produktionsstandard.