tl;dr: tl;dr #54 Mao Tse-tung: «5 philosophische Schriften» | mit Felix Wemheuer
Differenzierte Auseinandersetzung mit Maos Theorien, die die Brisanz historischer Gewaltexzesse nicht beschönigt.
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47 min read4305 min audioDer Theorie-Podcast der Rosa-Luxemburg-Stiftung widmet sich in dieser Folge der Frage, wie sich die Schriften Mao Tse-tungs heute noch lesen lassen. Moderator Alex Demirović spricht mit dem Sinologen Felix Wemheauer über fünf zentrale Texte Maos zu Themen wie Erkenntnistheorie, Widerspruch und Klassenkampf. Dabei räumen sie ein, dass Maos Theorie des „Hauptwiderspruchs“ nicht alle gesellschaftlichen Konflikte vereinfacht, sondern gerade die Verschiebbarkeit von Widersprüchen betont. Gleichzeitig wird deutlich, dass die historischen Konsequenzen von Maos Politik – etwa die Große Hungersnot mit bis zu 55 Millionen Toten – eine ungebrochene Brisanz haben. Die Episode zeigt, wie Mao versuchte, innerhalb der sozialistischen Gesellschaft Widersprüche offen auszutragen, diese Öffnung aber stets an die Macht der Partei band. Die Diskussion bleibt auf hohem theoretischem Niveau, ohne die humanen Katastrophen zu relativieren.
### Maos Erkenntnistheorie bleibe an sensualistischen Positionen des 17. Jahrhunderts hängen
Demirović konstatiert, Mao argumentiere, Erkenntnis entstehe aus sinnlicher Erfahrung und erst in zweiter Stufe durch Verallgemeinerung zu Begriffen. Dabei blende Mao die kulturelle Vermittlung von Wissen aus: „Wir interpretieren Erfahrung immer schon im Lichte dessen, was wir als Kinder erlernt haben.“ Mao setze anstelle einer kritischen Auseinandersetzung mit Ideologie auf die Rückbindung an Praxis als Wahrheitskriterium, wobei offen bleibe, wer entscheide, welche Praxis maßgeblich sei.
### Die Theorie von Haupt- und Nebenwiderspruch sei komplexer als ihre Rezeption
Wemheuer betont, Mao sehe den Hauptwiderspruch nicht statisch festgelegt; vielmehr könne sich in konkreten politischen Bewegungen ein anderer Widerspruch zur dominierenden Position entwickeln. Dieser Gedanke übernehme später Louis Althusser in seiner Konzeption der „Überdeterminierung“, um zu erklären, wie sich mehrere Widersprüche in einem Moment wie der Russischen Revolution verdichten könnten. Mao selbst habe 1957 die Frage gestellt, wie mit nicht-antagonistischen Widersprüchen innerhalb der sozialistischen Gesellschaft umzugehen sei.
### Die Kampagne „Hundert Blumen blühen“ endete in einer massiven Repressionswelle
Nachdem Mao Intellektuelle aufgefordert hatte, Kritik an Missständen zu äußern, verschärfte sich die Lage binnen weniger Wochen: „Dann kam diese Antirechtskampagne, wo 700.000 Menschen verfolgt worden sind.“ Die Folge sei eine Selbstzensur vieler Wissenschaftler und Künstler gewesen. Die Grenze zwischen erlaubter Kritik und „Rechtsabweichlung“ lag letztlich bei der Partei, wodurch partizipative Elemente stark eingeschränkt wurden.
### Maos Konzept des antagonistischen Widerspruchs erlaube autoritäre Umschaltungen
Demirović verweist auf die brisante Frage, wer bestimme, ob ein Widerspruch als „antagonistisch“ gilt und damit Unterdrückung legitimiert sei. Die praktische Konsequenz sei eine autoritäre Logik: Wer als Feind klassifiziert werde, „hatte mit allen Folgen zu rechnen“. Die Ambivalenz zwischen dem Appell zu offener Debatte und der schnellen Eskalation zu Repressionen zeige eine strukturelle Schwäche im Verhältnis von Partei und Gesellschaft.
### Die westliche Rezeption habe Mao oft als anti-autoritäres Vorbild missverstanden
Wemheuer bezeichnet westliche Maoisten-Debatten der 1970er-Jahre als „produktives Missverständnis“. Autoren wie Sartre oder das „Manifest“ hätten die Kulturrevolution als Versuch interpretiert, „die Partei wieder in den Massen zu erden“. Die historische Realität in China – einschließlich bewaffneter Fraktionskämpfe – habe mit dieser idealisierten Lesart wenig gemein. Nach Maos Tod habe die KPCh selbst die Verwerfungen der Kulturrevolution aufgearbeitet, wodurch westliche Mao-Gruppen ihren Bezugspunkt verloren.
## Einordnung
Der Podcast betreibt keine Relativierung der Gewaltexzesse, sondern rekonstruiert sachlich, wie Mao sich theoretisch auf Marx, Lenin und die chinesische Bauernbewegung bezog und weshalb seine Texte trotz Millionen Toter weiterhin diskutiert werden. Die Gesprächsführung bleibt auf akademischem Niveau; weder Demirović noch Wemheuer verharmlosen die Massenmorde der Großen Hungersnot oder die Repressionen der Kulturrevolution. Besonders wertvoll ist, dass die Diskussion die westliche Linke der 1970er-Jahre kritisch hinterfragt und zeigt, wie intellektuelle Projektionen die Realitäten in China überdeckten. Die Sendung bietet keine einfachen Antworten, sondern eine komplexe Auseinandersetzung mit der Frage, ob und wie sich theoretische Einsichten aus einem historisch gescheiterten Projekt heute noch fruchtbar machen lassen – ohne die menschlichen Kosten auszublenden.