Im Podcast "Raport o stanie świata" spricht Agata Kasprolewicz mit dem polnischen Schriftsteller und Historiker Paweł Rzewuski über dessen neuen historischen Roman „Krzywda“. Das Gespräch konzentriert sich auf die Darstellung der polnisch-litauischen Adelsrepublik im 17. Jahrhundert – einem vielschichtigen, multiethnischen und multireligiösen Staatswesen, das oft zu einseitig dargestellt wird. Rzewuski betont, dass das damalige Gemeinwesen weder rein „polnisch“ noch ausschließlich katholisch war. Er zeigt auf, dass viele heutige Deutungen des 17. Jahrhunderts entweder nationale Mythen bedienen oder koloniale Schuldgefühle schüren – beide Perspektiven seien jedoch historisch zu kurz gegriffen. Stattdessen plädiert er für ein differenziertes Bild, das die soziale Mobilität, religiöse Pluralität und kulturelle Vielfalt jener Epoche ernst nimmt. ### Rzewuski: Die Adelsrepublik war multiethnisch und multireligiös Rzewuski beschreibt die Adelsrepublik als ein „riesiges, vielfältiges Land“ mit einer Vielzahl von Kulturen und Religionen. Neben Katholiken und Protestanten lebten dort Orthodoxe, Juden, Muslime und kleinere Gruppen wie die Karäer. Die polnische Sprache fungierte zwar als Verkehrssprache unter dem Adel, sei jedoch nicht mit nationaler Identität gleichzusetzen. Er betont, dass viele Adlige sich weder als Polen noch als Angehörige einer Nationalität verstanden, sondern sich überwiegend über Stand und Religion definierten. ### Die Arianer: Radikale Protestanten mit politischem Einfluss Eine zentrale Rolle in Rzewuskis Roman spielen die Arianer – ein radikaler protestantischer Glaubenszweig, der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine bedeutende intellektuelle Bewegung darstellte. Sie forderten Trennung von Kirche und Staat sowie soziale Gleichheit. Rzewuski hebt hervor, dass sie an Universitäten wie dem Raków-Zentrum studierten und auch Katholiken ihre Kinder dorthin schickten. Nach dem Schwedenzug wurden sie jedoch verfolgt und ins Exil getrieben – mit Folgen für das religiöse Gleichgewicht in Polen. ### Siedlungsstrukturen: Zwischen Selbstverwaltung und sozialer Mobilität Der Autor zeigt auf, dass die soziale Wirklichkeit damals wesentlich fließender war, als es heutige Klischees vermuten lassen. Viele Bauern konnten durch soziale Aufstiege in den Adelsstand gelangen – etwa durch Heirat, Erbschaft oder Kriegsdienste. Gleichzeitig konnten auch arme Adlige bäuerliche Abgaben leisten müssen. Die Grenzen zwischen „Herr“ und „Bauer“ seien oft unscharf gewesen und stark von regionalen Gegebenheiten abhängig. ### Geschichtspolitik: Zwischen Mythen und Schuldzuweisungen Rzewuski kritisiert, dass das 17. Jahrhundert heute entweder zur Mythenbildung oder zur Schuldzuweisung instrumentalisiert werde. Einerseits würden nationale Erzählungen vom „glorreichen Adel“ bedient, andererseits werde die Epoche nun als koloniales System der Ausbeutung verurteilt. Beide Sichtweisen seien historisch zu kurz gegriffen. Stattdessen plädiert er für ein ambivalentes Bild, das die Komplexität der damaligen Gesellschaft erfasse – inklusive ihrer Schattenseiten und Verdienste. ## Einordnung Der Podcast ist klar journalistisch formatiert und bietet ein fachkundiges, differenziertes Gespräch über ein komplexes Kapitel polnischer Geschichte. Die Moderation hält sich zurück, stellt kluge Fragen und ermöglicht dem Autor eine tiefe Auseinandersetzung mit historischen Mythen. Besonders bemerkenswert ist, dass Rzewuski selbstkritisch mit nationalen Erzählungen bricht und stattdessen die Vielfalt und Widersprüche der Adelsrepublik betont. Es gelingt ihm, ohne belehrend zu wirken, ein plurales, vielstimmiges Bild jener Epoche zu zeichnen. Der Podcast bietet keine einfachen Antworten, sondern regt dazu an, Geschichte als Prozess der Deutung und Aushandlung zu verstehen – ein bemerkenswert reflektierter Umgang mit Geschichte in der öffentlichen polnischen Debatte.