Radiowissen: Ghosting - Wenn ein Mensch plötzlich weg ist
Eine episodische Doku über das abrupte Kontakt-Abbrechen und seine emotionalen Spuren – ohne gesellschaftliche Tiefe, mit starkem persönlichen Fokus.
Radiowissen
24 min read1332 min audioDer Bayern-2-Beitrag „Ghosting – wenn Menschen spurlos verschwinden“ (Autorin: Katharina Hübel) näht aus drei Perspektiven ein emotionales Panorama: Online-Dating-Psychologin Pia Cabitch erzählt, wie ein Mann nach einem tiefgründigen Date mit den berühmten 36 Fragen nie wieder antwortete; die Mutter Daniela Liebsch berichtet, dass ihre erwachsenen Töchter seit fünf Jahren jeglichen Kontakt abgebrochen hätten; die Berliner Beraterin Anja Wehrmann erklärt, warum dieses abrupte Schweigen für Gehirn und Psyche so belastend sei. Dazwischen zitiert die Redaktion Studien, etwa dass 70 % der Befragten schon Freund:innen und über 50 % Partner:innen geghostet hätten. Die Sendung bleibt dabei rein deskriptiv: Es gibt keine Bewertung der Täter:innen-Seite, kein Rechercheversuch zu möglichen Missbrauchs- oder Schutzgründen, keine rechtlichen, ethnischen oder sozialen Kontexte. Stattdessen wird das Phänomen als universelles „moderne Kommunikationskrise“ inszeniert, was die Betroffenen ratlos erscheinen lässt und sie zur Selbsttherapie („Buch-übers-Ende-schließen-Übung“, „Spürhund-Strategie“) verpflichtet. Die Expertise beschränkt sich auf Einzelinterviews und eine kleine Studie; tiefergehende wissenschaftliche oder kritische Perspektiven bleiben aus. Die Sprecherin übernimmt fast durchgehend das Erzählen, die Betroffenen kommen nur in kurzen O-Tönen zu Wort – klassisches Doku-Format mit starker emotionaler Färbung, aber ohne journalistische Durchleuchtung der Machtverhältnisse, die zum Schweigen führen könnten.
### 1. Ghosting sei eine besonders traumatische Trennungsform, weil sie keine Erklärung lasse
„Weil es ja wirklich das absolut abrupte plus noch, dass der andere nicht mehr zu erreichen ist“ (Anja Wehrmann). Die Sendung stelle Ghosting als eigenständige, schwerere Kategorie neben normale Trennungen dar, ohne zu hinterfragen, ob es Kontexte geben könne, in denen Kontaktabbruch legitimes Selbstschutz sei.
### 2. Dating-Apps führten zu „Burn-out“ und Entscheidungsüberlastung, was Ghosting begünstige
„Innerhalb von 0,1 Sekunden machen wir uns ein Blitzurteil über eine andere Person“ (Pia Cabitch). Als Folge des Überangebots würden Menschen immer wieder neue Kontakte anfangen und alte abbrechen – eine marktlogische Erklärung, die strukturelle Gründe (z. B. Geschlechterverhältnisse, Kommerzialisierung) unerwähnt lasse.
### 3. Betroffene erlebten jahrelang unverarbeitete Trauer mit psychosomatischen Symptomen
„Ich komme aus dieser Trauerschleife nicht raus“ (Daniela Liebsch). Die Episode zeige, wie stark das unausgesprochene Warum körperlich werde – ohne jedoch institutionelle Hilfsangebote jenseits Einzeltherapie oder Selbsthilfegruppen vorzustellen.
### 4. Für Ghoster:innen habe das Verhalten meist keine negativen psychischen Folgen – außer bei Freundschaften
„Leute, die romantische Partner:innen geghostet haben … keinen Effekt auf ihr Wohlbefinden hatten“ (Michaela Forrai). Diese Differenzierung komme ohne soziale oder moralische Bewertung, was impliziere, dass romantisches Ghosting gesellschaftlich weitgehend folgenlos bleibe.
### 5. Kommunikationswissenschaftler:innen führten das Phänomen auch auf „Communication Overload“ zurück
„Personen, die … von einer Nachrichtenflut überwältigt wurden … da eher … romantische Partner:innen geghostet haben“ (Michaela Forrai). Die Episode nutze diese technische Argumentation, um soziales Verhalten auf Medienüberlastung zu reduzieren, ohne Machtaspekte oder soziale Herkunft einzubeziehen.
### 6. Psychologische Strategien zur Bewältigung setzen an individueller Perspektivänderung, nicht an sozialer Verantwortung
„Ich kann das Buch erstmal zuklappen … und dann erstmal mich wieder umschauen in meinem Leben“ (Anja Wehrmann). Die empfohlenen Übungen übernehmen marktradikale Selbstoptimierung: Wer keine Antwort bekomme, solle sich selbst verändern, statt Antworten oder Unterstützung einzufordern.
## Einordnung
Die Sendung bedient sich eines hoch emotionalen Themas, bleibt aber inhaltlich flach: Sie rekonstruiert Betroffenheitsgeschichten, ohne nach Ursachen jenseits von Dating-App-Logik oder individueller Konfliktscheu zu forschen. Dabei blendet sie systemische Perspektiven aus: toxische Beziehungen, Grenzverletzungen oder Schutzsuchende, die Kontakt abbrechen müssen, kommen nicht vor. Die Expertise beschränkt sich auf Einzelinterviews und eine kleine Studie, größere soziologische oder rechtliche Debatten fehlen. Die Moderation übernimmt das Deutungsmonopol, Betroffene erscheinen als stumme Leidträger:innen. Statt kritisch zu hinterfragen, warum Menschen ghosten oder welche Machtverhältnisse das erleichtern, wird eine universelle Psycho-Strategie verkauft: „Klappe das Buch zu und arbeite an dir selbst.“ Das entspricht einem individualisierenden Therapie-Dispositiv, das gesellschaftliche Verantwortung für verbindliche Kommunikation ausklammert. Der Beitrag wirkt wie ein Wohlfühl-Feature über ein unangenehmes Thema: nah am Schmerz, fern von Aufklärung.