Víðsjá:
Isländische Choreographin über verbotene Tänze im Iran, feministische Dramaturgie und posthumanistische Choreografie.
Víðsjá
41 min read3148 min audioKontext: Diese Folge des isländischen Kulturpodcasts „Víðsjá“ (Gastgeberin: Halla Harðardóttir) porträtiert die Choreographin Rósa Ómarsdóttir. Das 46-minütige Interview spannt den Bogen von ihrer frühen Ballettkarriere über das Studium an der renommierten belgischen Schule P.A.R.T.S. bis zu ihren aktuellen Arbeiten, die Tanz, Bildende Kunst und Aktivismus verbinden.
Hauptthema: Wie wird heute zeitgenössischer Tanz jenseits klassischer Formen erforscht, unterrichtet und auf die Bühne gebracht – und welche Rolle spielen dabei Machtverhältnisse, Feminismus und Ökologie?
### 1. Tanz als Politikum: Verbotene Bewegung im Iran
Rósa berichtet von ihrer Recherche-Reihe „Second Hand Knowledge“, für die sie etwa im Iran mit Tänzer:innen sprach, die wegen „verbotener“ Aufführungen inhaftiert wurden. Dort existiert laut Rósa eine große Underground-Szene, die über WhatsApp organisiert und ihre Stücke als „rhythmische Bewegungen“ oder „Bewegungs-Architektur“ tarnt, um der Zensur zu entgehen.
### 2. Feministische Dramaturgie: Keine Heldin, sondern Landschaft
Statt klassischer Spannungsbögen setzt Rósa auf ein „Landschafts-Format“: Das Publikum darf frei im Raum wandern, es gibt keine zentrale Figur, mehrere Handlungsfäden verlaufen parallel. Diese Vorgehensweise deutet sie als feministische Geste, weil hierarchische Erzählstrukturen aufgebrochen werden.
### 3. Ökologische Choreografie: Mensch als Teil eines Systems
In Werken wie „Molta“ (2024) arrangiert Rósa Wasser, Licht, Objekte und menschliche Körper gleichwertig. Der „agency“-Begriff (dt. etwa: Handlungsfähigkeit) wird auf nicht-menschliche Elemente ausgedehnt – ein posthumanistischer Ansatz, der an Donna Haraways Ökofeminismus erinnert.
### 4. Körper- und akademisches Wissen im Wechselspiel
Ein Forschungsstipendium erlaubte es ihr, ein Jahr Theorie und Praxis nebeneinander zu entwickeln: Sie las Umweltphilosophie, besuchte Vorträge und ging danach ins Studio, „um das Gelernte sofort in den Körper zu übersetzen“. Diese Iteration nennt sie zentral für ihre Arbeitsweise.
### 5. „Second Hand Knowledge“ als künstlerische Methode
Ausgehend von ihrer Erfahrung als Isländerin in der belgischen Tanz-Weltzentrale Brüssel reflektiert Rósa, wie begrenzter Zugang zu Live-Performances (nur über Video) eine eigene, freiere Interpretation ermöglicht – und macht daraus ein globales Projekt mit Workshops in Ländern ohne etablierte Tanzinfrastruktur.
### 6. Neue Definition: Choreografie jenseits von Schritten
Für Rósa ist Choreografie jede Organisation von Zeit, Raum und Bewegung. Sie zitiert ein Stück, bei dem Performer:innen im Publikum Bücher auswendig rezitieren – ohne je einen Schritt zu tanzen. Diese Erweiterung des Begriffs ist ihr wichtig, um Tanz von rein körperlicher Technik zu lösen.
## Einordnung
Das Gespräch ist kein harter Journalismus, sondern ein kunstbetontes Länderporträt – mit entsprechendem Freiraum für Theoriezitate und Eigenlob. Die Moderatorin hakt selten kritisch nach, etwa wenn Rósa Belgien als Tanzmekka feiert, ohne die dortige Förderstruktur zu hinterfragen. Positiv: Der Sendung gelingt es, komplexe Ansätze wie posthumanistische Choreografie oder feministische Dramaturgie für ein breites Publikum verständlich zu machen. Kritisch: Perspektiven von Tänzer:innen aus dem globalen Süden bleiben trotz des Rechercheprojekts marginal; die Reduktion des Irans auf Verbots- und Untergrund-Szene verfestert Klischees. Insgesamt bietet die Episode eine inspirierende, aber unkritische Einführung in zeitgenössische Tanzpraxis.
Hörwarnung: Wer waghalsige Reportagen oder strukturierte Kritik erwartet, wird enttäuscht; wer neue künstlerische Perspektiven sucht, findet anregende Einblicke.