Das Politikteil: "Das Problem von Friedrich Merz ist, dass er ohne Honeymoon gestartet ist."
Eine scharfe Analyse der strukturellen Probleme der deutschen Parteiendemokratie am Beispiel der gescheiterten Verfassungsrichterwahl.
Das Politikteil
62 min read3601 min audioIn "Das Politikteil" der ZEIT analysieren Tina Hildebrandt und Ileana Grabitz mit dem Politikwissenschaftler Thomas Biebricher das Debakel um die gescheiterte Verfassungsrichterwahl und die Krise der schwarz-roten Koalition. Das Gespräch zeigt eine Regierung, die nach anfänglichem Erfolg nun an strukturellen Problemen zu scheitern droht.
### Die Union verfange sich in kulturkämpferischen Ersatzhandlungen
Biebricher erklärt die Probleme der CDU mit ihrem Versprechen eines "Politikwechsels", der in der Koalition mit der SPD kaum umsetzbar sei. "Es gibt natürlich einen gewissen Anreiz oder es gibt eine Verlockung, symbolpolitisch zumindest ein paar Zeichen zu setzen", so der Experte. Die Union flüchte sich in kulturkämpferische Themen wie Schwangerschaftsabbrüche oder Genderfragen, weil diese "relativ schnell Zeichen setzen" könnten, ohne "Finanzierungsvorbehalte" zu verursachen.
### Die gescheiterte Richterwahl politisiere das Bundesverfassungsgericht gefährlich
Die Eskalation um Frauke Brosius-Gersdorf zeige, wie schnell institutionelle Verfahren politisiert werden könnten. "Normalerweise sind das ja Vorgänge, die recht geräuschlos funktionieren", erklärt Biebricher. Die Gefahr liege darin, dass sich solche Vorgänge häuften und das Verfassungsgericht in amerikanische Verhältnisse abdrifte, wo Richter entlang von Parteilinien abstimmten.
### Merz fehle die Autorität eines traditionellen Kanzlers
Der Kanzler sei "ohne Honeymoon-Phase" gestartet und habe bereits früh Vertrauen in der eigenen Fraktion verloren. "Das Problem für Friedrich Merz ist schon das, dass er in gewisser Weise ohne Honeymoon-Phase in die Regierung gestartet ist", analysiert Biebricher. Die Union funktioniere nicht mehr als "Kanzlerwahlverein".
### Die SPD-Schwäche gefährde die gesamte Koalition
Ähnlich der FDP in der Ampel-Koalition müsse die SPD bei 14 Prozent in den Umfragen "Hardliner-Positionen" vertreten, um politisch zu überleben. "Die SPD hat seit Gerhard Schröder also beinahe Jahrzehnte mitregiert", was ihr "nicht gut getan" habe.
### Das Konzept der "politischen Mitte" sei eine Illusion
Biebricher warnt vor einer "Mitte", die sich permanent gegen die "Ränder" abgrenze, aber dadurch diese Ränder erst stärke. Die traditionelle Vorstellung alternierender Mehrheitsblöcke funktioniere nicht mehr: "Ich sehe nicht, dass wir jetzt in absehbarer Zeit zu der Art von Normalität zurückfinden."
## Einordnung
Das Gespräch offenbart eine bemerkenswerte analytische Klarheit über die strukturellen Probleme der deutschen Parteiendemokratie. Biebricher entwickelt eine kohärente Krisendiagnose, die über tagespolitische Ereignisse hinausgeht und systemische Transformationen in den Blick nimmt. Seine Analyse der Union als "freidemokratisierte Christdemokratie" ist besonders erhellend - sie erklärt, warum die CDU in kulturkämpferischen Ersatzhandlungen verfangen ist, wenn ihre eigentlichen ordnungspolitischen Positionen bereits von der FDP besetzt waren.
Problematisch ist allerdings die einseitige Fokussierung auf institutionelle Abläufe bei gleichzeitiger Vernachlässigung der gesellschaftlichen Ursachen für die Polarisierung. Die Diskussion bleibt in den Kategorien des politischen Betriebs gefangen, ohne die sozioökonomischen Verwerfungen zu thematisieren, die erst zu den beschriebenen Fragmentierungen geführt haben. Biebricher warnt zu Recht vor der Illusion, die AfD "wegregieren" zu können, bietet aber keine alternativen Strategien an. Das Gespräch reproduziert damit ungewollt die Ratlosigkeit, die es analysiert - ein Mitte-Diskurs, der seine eigenen Prämissen nicht mehr hinterfragen kann.
Die Moderatorinnen führen das Gespräch kompetent, stellen aber kaum kritische Rückfragen zu Biebrichers Thesen. Positiv ist die Bereitschaft, auch unbequeme Wahrheiten zu diskutieren, etwa die Frage nach der Zukunft der Unvereinbarkeitsbeschlüsse. Insgesamt bietet die Folge eine kluge Momentaufnahme der aktuellen Krise, ohne jedoch über deren Symptome hinauszugelangen.