Der Tag: Blue Zones - Das Geheimnis der 100-Jährigen

Die „Der Tag“-Sonderausgabe hinterfragt die „Blue Zones“ und fragt, wie wir gesund alt werden – mit kritischem Blick auf Daten, Politik und Mythen.

Der Tag
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Der Podcast „Der Tag“ widmet sich in dieser Sonderausgabe dem Thema „Alt werden – aber gesund“. Moderatorin Barbara Schmidt-Mattern spricht mit dem ARD-Tokio-Korrespondenten Martin Fritz und dem Kölner Altersforscher Prof. Dr. Björn Schumacher über die sogenannten „Blue Zones“, also Regionen mit besonders hoher Lebenserwartung. Dabei rücken Okinawa/Japan, Sardinien, Costa Rica, Kalifornien und Ikaria in den Fokus. ### 1. Die Datenlage zu Okinawa sei brüchig Martin Fritz berichtet, dass die ursprünglichen Zahlen, auf denen die Auszeichnung Okinawas als „Blue Zone“ beruhte, „falsch“ gewesen seien. 2010 hätten japanische Behörden festgestellt, dass „80 Prozent“ der offiziell Hundertjährigen entweder bereits verstorben oder nicht nachweisbar alt gewesen seien. ### 2. Tourismus-Marketing nutze den Mythos gezielt Trotz der fragwürdigen Daten werde Okinawas Titel als „Blue Zone“ laut Fritz gezielt für Wellness-Tourismus vermarktet: „Luxushotels bieten Blue-Zone-Retreat-Pakete an", wobei die eigentlich relevante Region „weitgehend bewaldet“ und kaum touristisch erschlossen sei. ### 3. Japanische Präventionspolitik als Vorbild? Fritz hebt staatlich verpflichtende Gesundheitsuntersuchungen und „Nudging“-Strategien in Unternehmen hervor: „Alle Unternehmen sind verpflichtet, ihre Mitarbeiter einmal jährlich zu einer Gesundheitsprüfung zu schicken." Die Daten würden genutzt, um Mitarbeitende zu „Anspornen" zu bewegen. ### 4. Forschung sieht nur begrenzten genetischen Einfluss Prof. Schumacher relativiert die Bedeutung der Gene: „Etwa 30 Prozent“ des Alterungsprozesses seien genetisch festgelegt, „die Spannbreite ist zwischen 10 und 50 Prozent“. Der Großteil liege in Umweltfaktoren und Lebensstil begründet. ### 5. Gesundheit als „gesellschaftliche Aufgabe" Schumacher plädiert für ein Umdenken von der Krankheits- zur Präventionsmedizin. Der demografische Wandel mache „lebenslange Gesundheit" zur gesellschaftlichen Notwendigkeit, um Pflegekosten zu reduzieren und Teilhabe im Alter zu sichern. ### 6. Schuldzuweisungen seien „Unfug" Beide Experten warnen davor, krank Werden zur individuellen Schuld zu erklären. Schumacher betont: „Übergewicht ist nicht die Schuld des Übergewichtigen", da soziale und wirtschaftliche Faktoren stark mitspielten. ## Einordnung Die Sendung wirkt auf den ersten Blick wie fundierte Wissenschaftsberichterstattung, doch bei genauerem Hinsehen bleiben wichtige Fragen offen. Zwar werden die Datenprobleme der „Blue Zones“ benannt, doch der Mythos wird dennoch weitgehend unkritisch reproduziert. Die Perspektive der Menschen vor Ort, etwa derjenigen, die aus touristischen Gründen in den „Blue-Zone-Diskurs“ eingebunden werden, fehlt gänzlich. Auffällig ist auch, wie schnell aus individuellen Lebensstilfaktoren eine gesellschaftspolitische Verpflichtung wird – ohne dass grundlegende Machtfragen thematisiert würden. Wer profitiert von der Kommodifizierung gesunder Lebensweise? Welche sozialen Ungleichheiten werden durch staatliche Gesundheitsprogramme verstärkt oder verdeckt? Diese Fragen bleiben ungestellt. Stattdessen dominiert ein neoliberal inspirierter Diskurs, der Gesundheit zur individuellen Leistung und zum Wirtschaftsfaktor erklärt. Die Expertise der Wissenschaftler:innen wird zwar eingebunden, aber nicht hinterfragt – ein Beispiel für die Selbstverständlichkeit, mit der wissenschaftliche Autorität beansprucht wird, ohne dass ihre gesellschaftliche Verortung reflektiert wird. Hörwarnung: Wer differenzierte Kritik an Gesundheitsmythen und strukturellen Machtverhältnissen erwartet, wird hier nur bedingt fündig.