Bundestalk - Der Politik-Podcast der taz: In schlechter Verfassung
Taz-Analyst:innen sezieren das Scheitern der Verfassungsrichterwahl als Beispiel für rechte Kulturkampf-Strategien und das Versagen der Union im Umgang mit orchestrierten Desinformationskampagnen.
Bundestalk - Der Politik-Podcast der taz
64 min read3610 min audioIn der Taz-Podcast-Folge diskutieren Stefan Reinecke, Anna Lehmann, Dinah Riese und Sabine am Orde das Scheitern der Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Bundesverfassungsrichterin. Die Wahl wurde abgeblasen, nachdem etwa 40 Unionsabgeordnete signalisierten, nicht für die SPD-Kandidatin zu stimmen - hauptsächlich wegen ihrer liberalen Haltung zum Abtreibungsrecht. Die Diskussion analysiert die orchestrierte Kampagne gegen Brosius-Gersdorf durch rechte Medien und christlich-fundamentalistische Gruppen, die mit bewussten Falschdarstellungen ihrer Positionen arbeiteten. Die Moderator:innen sehen das Versagen von Fraktionschef Jens Spahn als handwerklichen Fehler, der die Kampagne unterschätzte, sowie ein strukturelles Problem der Union im Umgang mit rechten Kulturkämpfen.
### Orchestrierte Kampagne gegen liberale Juristin
Die Kritik an Brosius-Gersdorf konzentrierte sich auf ihre Mitarbeit in einer Regierungskommission, die eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in den ersten zwölf Wochen vorschlug. Kampagnenakteur:innen stellten dies jedoch falsch dar: "Jetzt ist in dieser Kampagne ihr ja vorgeworfen worden, sie würde Abbrüche bis quasi kurz vor der Geburt legalisieren wollen, was überhaupt nicht stimmt", erklärt Riese. Die Kampagne wurde von rechten Medien wie Nius und fundamentalistischen Gruppen wie "Christdemokraten für das Leben" orchestriert, die E-Mail-Kampagnen mit vorgefertigten Texten an Bundestagsabgeordnete starteten.
### Spahns handwerkliches Versagen
Fraktionschef Jens Spahn wird ein massives Unterschätzen der Kampagne vorgeworfen. "Ich habe tatsächlich den Eindruck, dass der das brutal unterschätzt hat", so am Orde. Spahn war mit seiner eigenen Maskenverteidigung beschäftigt und verpasste den Moment, rechtzeitig zu handeln. Am Ende griff er verzweifelt zu einem unhaltbaren Plagiatsvorwurf gegen Brosius-Gersdorf: "zwei, drei Stunden später stellte sich aber raus, dass Weber dann sagte, nein, also Plagiatvorwürfen wir eigentlich gar nicht die Rede".
### Kulturkampf als AfD-Strategie
Die Expert:innen identifizieren die Kampagne als Teil einer größeren rechten Strategie. "Sozusagen dieser Art von Kulturkampf ist so ein wahnsinniges Brückenthema, Brückenscharnier in alle möglichen Richtungen, wo sich sozusagen die konservative Mitte und der ganz rechte Rand treffen", analysiert Riese. Die AfD nutze solche Themen bewusst zur Spaltung der Union, während 80 Prozent der Bevölkerung eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts befürworten.
### Falsche Darstellung der Kandidatin
Brosius-Gersdorf wurde als "linksradikale Aktivistin" diffamiert, obwohl sie in vielen Bereichen wirtschaftsliberal positioniert ist. Sie kritisierte etwa die Rente mit 63 und das Bürgergeld - Positionen, die eher zur Union passen würden. "Also das ist ja eher so eine Position, die bei Carsten Linnemann beheimatet ist sonst", bemerkt Reinecke. Die Kampagne ignorierte ihre ausgewogene juristische Expertise und fokussierte einseitig auf das Abtreibungsthema.
### Koalitionskrise nach 70 Tagen
Das Scheitern stellt Schwarz-Rot vor eine grundsätzliche Vertrauenskrise. "Die sind so wundgescheuert nach 70 Tagen, wie es jetzt sind", konstatiert Lehmann. Die SPD hatte bereits schmerzhafte Zugeständnisse wie die Aussetzung des Familiennachzugs gemacht, während die Union nun ihre Zusagen bricht. Die Zukunft der Koalition hängt davon ab, ob die Union aus diesem "unforced error" lernt.
## Einordnung
Der Podcast liefert eine detaillierte Analyse eines politischen Debakels, das exemplarisch für die Herausforderungen der Großen Koalition steht. Die Darstellung ist journalistisch fundiert, mit präzisen Quellenangaben und differenzierter Betrachtung der verschiedenen Akteur:innen. Besonders wertvoll ist die Einordnung der Kampagne gegen Brosius-Gersdorf in größere rechte Strategien zur Polarisierung der Gesellschaft.
Die vier Taz-Journalist:innen zeigen unterschiedliche Perspektiven auf, bleiben aber in ihrer Kritik an der orchestrierten Desinformationskampagne eindeutig. Ihre Analyse der Netzwerke zwischen christlich-fundamentalistischen Gruppen, rechten Medien und AfD ist gut belegt und aufschlussreich. Die Diskussion macht deutlich, wie externe Kampagnen demokratische Institutionen destabilisieren können, wenn politische Akteur:innen nicht angemessen reagieren.
Einige blinde Flecken zeigen sich in der zu wohlwollenden Betrachtung der SPD-Strategie und der mangelnden Reflexion über strukturelle Probleme der Großen Koalition. Die Analyse fokussiert stark auf das Versagen der Union, während die Frage, ob die SPD bessere Konfliktstrategien hätte entwickeln können, nur oberflächlich behandelt wird. Dennoch bietet der Podcast eine wichtige Einordnung einer Schlüsselkrise der deutschen Politik.