Víðsjá: Skjálfti Finnboga Péturssonar, Flamenco feðgar og Hans og Gréta/rýni
Kulturpodcast über Flamenco-Tradition, die Oper „Hans und Gretel“ und eine Ausstellung, die Seismographen-Daten live in Kunst verwandelt.
Víðsjá
3020 min audioVíðsjá er ein isländischer Kulturpodcast, der von Halla Harðardóttir und Melkorka Ólafsdóttir moderiert wird. In dieser 40-minütigen Oktober-Folge stehen drei Themen im Fokus: die Aufführung der Kammeroper „Hans und Gretel“ im Tjarnarbíó, ein bevorstehendes Flamenco-Gitarrenkonzert des Vater-Sohn-Gespanns Símon H. Ívarsson und Ívar Símonarson sowie die Einzelausstellung „Skjálfti“ (dt. „Erdbeben“) des Künstlers Finnbogi Pétursson im Listasafn Árnesinga. Letztere besteht aus zwei Installationen: Ein riesiger Spiegel visualisiert in Echtzeit Bodenerschütterungen um das Grab von Finn bogis verstorbenem Schwiegervater, dem Seismologen Ragnar Stefánsson, während eine rotbraune Tonspur quer durch den Ausstellungsraum an die tektonische Trennlinie Islands erinnert. Die Moderatorinnen führen kurze Interviews, um die künstlerischen Konzepte vorzustellen.
### Flamenco als kultureller Grenzgang
Símon und Ívar erklären, dass Flamenco aus der Verfolgung von Roma, Mauren und Juden während der spanischen Reconquista entstand. Die Musik sei anfangs von der Mehrheitsgesellschaft nur als Touristenunterhaltung akzeptiert worden und gelte heute als „künstlerischer Außenseiter“. Sie unterstreichen die Vielfalt der Stile – von den morisk geprägten Formen Andalusiens bis zu den vier-Viertel-Tänzen des Nordens – und betonen, dass jede Region ihre eigene Interpretation pflege.
### Virtuosität versus Emotionalität
Der Vater lobt Paco de Lucía als „Gott in Spanien“, weil dessen Fusion aus Flamenco, Jazz und Pop neue Standards gesetzt habe. Der Sohn kontert, ihn fasziniere weniger die technische Perfektion als der unkonventionelle Einsatz der Gitarre: „Hier wird das Instrument anders genutzt als in jeder anderen Gitarrenmusik.“ Beide einigen sich darauf, dass die persönliche Interpretation wichtiger sei als perfekte Noten.
### Live-Seismologie als Kunst
Finnbogi erklärt, sein Spiegel sende Echtzeit-Daten eines Seismographen am Grab seines Schwiegervaters nach Hveragerði. Besucher seien im Spiegel nicht sich selbst, sondern ihre durch Bodenwellen verzerrten Konturen. „Du wirst Teil der primären Schwingungen“, sagt er; das Licht pulsiere synchron mit den seismischen Frequenzen. Die rote Tonlinie markiere die tektonische Naht, deren Verlauf Ragnar Stefánsson erforscht hatte.
### Politische Erinnerung im Material
Die Farbe des Tons erinnere an die rote Bahre des 2023 verstorbenen Wissenschaftlers, der als Kommunist „seinen Weg bis zum Ende gegangen“ sei. Finnbogi habe gezögert, Asche-Reste im Keramikgefäß zu zeigen, bis ihm klar geworden sei, dass dies die konsequente Vollendung ihres gemeinsamen Gesprächs über sichtbare und unsichtbare Spuren sei.
### Oper für Kinder als Traditionsbrücke
Trausti Ólafsson erinnert sich, dass die Rundfunk-Pionierin Önnur Snorradóttir ihm als Kind dieselbe Oper vorgespielt habe. Die heutige Inszenierung gelte als „gemilderte Version“ ohne Grusel, was er ambivalent sieht: „Es ist nicht mein Geschmack, alle Biße aus uralten Märchen zu nehmen“, doch die Musik vermittle noch immer „vielschichtige Botschaften“.
## Einordnung
Die Sendung positioniert sich zwischen kunstjournalistischem Magazin und persönlichem Porträt. Die Moderatorinnen überlassen Künstlerinnen und Experten die Deutungshoheit, greifen jedoch kaum kritisch ein. So bleibt ungefragt, warum Flamenco erst durch touristische Kommerzialisierung Anerkennung fand, oder wie repräsentativ die Bodenwellen tatsächlich sind. Die Faszination für „Sichtbarmachen des Unsichtbaren“ dominiert, während soziale oder ökologische Kontexte der jeweiligen Kunstformen ausgeblendet bleiben. Besonders auffällig: Die ethnische Vielfalt Islands taucht nur als historisches Flamenco-Motiv auf, aktuelle Migrationskulturen fehlen gänzlich. Die Episode wirkt wie ein liebevoll produziertes Album schöner Klang-Bilder, das Fragen nach Macht, Geld und Teilhabe aber konsequent vermeidet. Wer kulturgeschichtliche Tiefe oder kontroverse Debatten erwartet, wird enttäuscht; wer entspannte Einblicke in Isländers Kreativszene sucht, darf gern lauschen.