Sternstunde Philosophie: Sorge statt Kapital – Warum wir mehr Gleichheit brauchen
Jule Govrin über radikale Gleichheit, Sorgearbeit und warum Ungleichheit keine Randerscheinung, sondern systemisch produziert ist.
Sternstunde Philosophie
3444 min audioIm Podcast "Sternstunde Philosophie" spricht Yves Bossart mit der Berliner Philosophin Jule Govrin über ihre Vision einer gerechteren Gesellschaft. Govrin kritisiert, dass Gleichheit bisher meist nur als abstraktes Ideal verstanden werde, statt als alltägliche Praxis. Sie fordert eine Wirtschaft, die nicht auf Profit, sondern auf Gemeinwohl ausgerichtet ist. Pflege, Bildung und Sorgearbeit müssten als zentrale gesellschaftliche Aufgaben neu bewertet und finanziert werden. Als Beispiele nennt sie Gemeinschaftsküchen und das Modell der "sorgenden Stadt" Barcelona. Der Staat solle zivilgesellschaftliche Initiativen stärker fördern. Zur Frage, warum Gleichheit trotz langem Kampf noch nicht erreicht sei, führt Govrin an, dass historisch nur bestimmte Gruppen Gleichberechtigung erfuhren – etwa durften Frauen in der Schweiz bis 1971 nicht wählen. Das Erstarken rechter Kräfte sieht sie als Folge wachsender Ungleichheit, die einfache Antworten suche. Bossart hält ihr entgegen, Verstaatlichung führe zu Ineffizienz. Govrin kontert, private Pflegeanbieter würden Profit priorisieren, was zu Personalmangel und schlechter Qualität führe.
### 1. Gleichheit als gelebte Praxis, nicht als Papierrecht
Govrin kritisiert, Gleichheit werde oft nur als formales Prinzip verstanden – alle hätten die gleichen Rechte. Doch tatsächlich würden strukturelle Benachteiligungen fortbestehen. "Die Geschichte der Gleichheit der Rechte ist auch eine Geschichte der Ungleichheit", sagt sie. Erst weiße Männer, dann weiße Bürger, Frauen in der Schweiz erst seit 1971 wahlberechtigt. Gleichheit müsse als alltägliche Sorge um andere gelebt werden.
### 2. Profitdenken verhindert gerechte Gesellschaft
Das zentrale Hindernis für Gleichheit sei eine Wirtschaft, die Profit über alles stelle. "Wenn etwas keinen Profit abwirft, wird es entwertet", kritisiert Govrin. Pflege, Bildung, Kultur würden stiefmütterlich behandelt, weil sie keine schnelle Rendite böten. Diese Entwertung von Sorgearbeit treffe besonders Frauen.
### 3. Alternative Wirtschaftsmodelle jenseits des Profitprinzips
Govrin fordert eine Wirtschaft, die auf Gemeinwohl statt Profit ausgerichtet sei. Der Staat solle zivilgesellschaftliche Projekte stärker fördern. Beispiel Barcelona: Dort gebe es Gemeinschaftsküchen, die soziale Infrastruktur bieten und Menschen zusammenführen. Solche „Sorgepolitik" stärke den sozialen Zusammenhalt.
### 4. Rechte Politik als Reaktion auf Ungleichheit
Das Erstarken konservativer und rechter Kräfte sieht Govrin als Folge wachsender Ungleichheit. Menschen, die sich abgehängt fühlten, suchten nach einfachen Antworten. "Diese einfachen Antworten werden ihnen dann von diesen konservativen und rechten Kräften gegeben", warnt sie. Die Lösung sei, die sozialen Ursachen zu bekämpfen.
## Einordnung
Das Gespräch zeigt eine bemerkenswerte argumentative Klarheit: Govrin entlarvt geschickt die Diskrepanz zwischen formalen Rechten und tatsächlicher Teilhabe. Besonders stark ist ihre Analyse, wie wirtschaftliche Strukturen Pflege und Sorgearbeit entwerten – eine zentrale feministische Erkenntnis. Schwächer wird es, wenn sie konkrete Alternativen skizziert: Appelle an „mehr Gemeinwohl" bleiben vage, die Barcelona-Beispiele wirken wie punktuelle Projekte statt systemischer Gegenentwurf. Bossarts Kritik an Verstaatlichung als ineffizient nimmt sie ernst, doch ihre Gegenargumente – private Pflegebetreiber würden sparen – bleiben ebenfalls pauschal. Beide diskutieren auf hohem Niveau, verharren aber in bekannten Fronten. Interessant: Weder Govrin noch Bossart fragen, warum Sorgearbeit trotz Nachholbedarf weiterhin geringer bezahlt wird – etwa an Kitas oder Altenpflegeheime. Der Fokus auf staatliche Finanzierung blendet aus, dass viele Frauen in diesen Branchen prekär beschäftigt sind. Die Sendung bietet eine gute Einführung in feministische Wirtschaftskritik, bleibt aber in der Vision einer „radikalen Gleichheit" letztlich unausgereift.