Weltspiegel Podcast: Niederlande ungefiltert: wer seid Ihr wirklich?
ARD-Korrespondent Tobias Reckmann enthüllt in der Weltspiegel-Doku die Risse hinter der niederländischen Urlaubsfassade - von rechtspopulistischen Wählern bis zu 400.000 Menschen ohne Wohnung.
Weltspiegel Podcast
39 min read1700 min audioDer Weltspiegel-Podcast "Niederlande ungefiltert" begleitet ARD-Korrespondent Tobias Reckmann durch ein Land im Wandel. Er spricht mit Moderatorin Janina Werner über seine Recherchen in Volendam, wo ein Drittel der rund 23.000 Einwohner:innen bei der letzten Wahl extrem rechts wählte. Der Fischhändler Jaap Schrilder erklärt, warum er seine Tochter auf eine katholische Privatschule schickt, damit sie "nicht mit Transgender-Sachen gefüttert wird" und keine Migrantenkinder dort aufgenommen werden. In Amsterdam trifft Reckmann die 30-jährige Parisa, deren afghanische Familie seit den 90er-Jahren in den Niederlanden lebt, die aber trotz Integration Erfahrungen von Diskriminierung schildert. Die 400.000 Menschen ohne Wohnung stehen exemplarisch für die Wohnungskrise - Jack (Mitte 20) musste nach seinem Studium wieder zu seinen Eltern zurück, da Sozialwohnungen kaum zu bekommen sind. Die Landwirte protestieren gegen Stickstoff-Grenzwerte, während erfolgreiche Milchbauern wie Henry Willich durch Agrar-Tourismus neue Geschäftsmodelle entwickeln. Reckmann beschreibt die Niederländer als auf Identitätssuche, zwischen Tradition und Fortschritt zerrissen.
### Ein Drittel der Volendamer:innen wähle extrem rechts
Reckmann berichtet, dass in der Kleinstadt Volendam "bei den letzten Parlamentswahlen ein Drittel der Menschen im Ort extrem rechts gewählt" hätten. Als Grund führe der Fischhändler Jaap Schrilder an, dass "Kulturen, die da nicht zusammenpassen" und man solle "dafür sorgen, dass diese Schule eine Privatschule bleibt", um bestimmen zu können, "welche Kinder auf die Schule kommen und welche nicht".
### Schuldzuweisungen an Migrant:innen für Wohnungsmangel
Trotz nur 2 % Menschen mit Migrationshintergrund in Volendam (gegenüber 37 % in Amsterdam) würden Menschen wie Jaap glauben, Migrant:innen seien das Problem. Diese Erzählung sei "sehr populär im rechten Milieu", obwohl der junge Jack aus Volendam betone: "We can't do without migrants to fill the work for the jobs that we don't want to do."
### Diskriminierung trotz Integration
Parisa aus Amsterdam berichte von Alltagsrassismus: "Er was de periode dat ik wel graag hoofddoek wilde dragen en ik aan het experimenteren was" - sie sei gezwungen gewesen, ihr Kopftuch abzulegen, da es in ihrer Berufsschule verboten war. Freundinnen hätten ähnliche Erfahrungen gemacht, etwa bei Bewerbungsverfahren abgelehnt zu werden.
### Existenzängste der Landwirte
Bauer Joos habe "Existenzängste", da die Regierung "die Anzahl der Kühe pro Hektar reduziert" und "Betriebsschließungen drohten". Die Agrarindustrie stoße "sehr viel Klimaschädliche Gase aus", weshalb die Niederlande "immer schon so sehr hart an den Grenzwerten" lägen.
### Neue Geschäftsmodelle durch Agrar-Tourismus
Milchbauer Henry Willich habe "aus dem elterlichen Hof und der Käserei ein Imperium geformt" und mache "40 % seines Umsatzes über den Tourismus". Er habe erkannt, dass "Weltoffenheit zum Geschäftsmodell" gehöre, da etwa "25-30 % unserer Mitarbeiter aus dem Ausland kommen".
### Zerrissenheit zwischen Tradition und Fortschritt
Reckmann beschreibt die Niederländer als "auf Identitätssuche", zwischen Tradition und Fortschritt zerrissen. Das traditionelle Prinzip der Toleranz funktioniere noch, bekomme aber "langsam Risse", da Menschen sich "fremd im eigenen Land" fühlten und die Schuld anderen zuschieben würden.
## Einordnung
Der Podcast zeigt journalistisch anspruchsvoll die gesellschaftlichen Bruchlinien der Niederlande auf, ohne Position zu beziehen. Die Perspektivenvielfalt ist beeindruckend: Rechte Wähler werden nicht bloßgestellt, sondern in ihrer Motivation nachvollziehbar gemacht, ohne ihre Positionen zu legitimieren. Gleichzeitig kommen Betroffene wie Parisa zu Wort, deren Erfahrungen von Diskriminierung authentisch wirken. Die Kritik an der Wohnungspolitik und der Stickstoffdebatte bleibt sachlich, ohne zu moralisieren. Besonders bemerkenswert ist, wie die ARD-Korrespondenten die Komplexität des gesellschaftlichen Wandels abbilden - zwischen touristischer Selbstvermarktung und existenziellen Ängsten der Landwirte, zwischen Integration und Ausgrenzung. Die Frage nach der niederländischen Identität wird offen gelassen, statt einfache Antworten zu liefern. Ein gelungenes Beispiel für differenzierte Auslandsberichterstattung, das Klischees hinterfragt und die Realität nüchtern abbildet.