# Strategische Leere: Deutschlands Glaubwürdigkeitskrise Die deutsche Politik ist von einer wachsenden Kluft zwischen proklamierten Grundsätzen und der politischen Praxis geprägt. Ob bei der "Brandmauer" gegen die AfD oder der Führungsrolle im Klimaschutz – einstudierte Gewissheiten lösen sich bei genauerem Hinsehen in strategische Unschärfe und widersprüchliches Handeln auf. Dies offenbart eine tiefere Krise der politischen Gestaltungskraft, in der performative Abgrenzung und kurzfristige Interessen eine kohärente Zukunftsstrategie ersetzen. #### Die bröckelnde "Brandmauer" als Symptom Die Union unter Friedrich Merz manövriert sich im Umgang mit der AfD zunehmend in eine strategische Sackgasse. Die als unumstößlich dargestellte "Brandmauer" erweist sich als rhetorisches Konstrukt, das den politischen Realitäten insbesondere in Ostdeutschland nicht mehr standhält – "Merz, die AfD und ein Interview, das so nicht sein sollte" (POLITICO Berlin Playbook, 21.10.2025). Die Analyse legt nahe, dass die Weigerung, den Unvereinbarkeitsbeschluss an die veränderte Lage anzupassen, die CDU lähmt. Ein bemerkenswertes Beispiel für diese konzeptionelle Leere ist ein Interview mit der stellvertretenden Generalsekretärin Christina Stumpp. Ihre Unfähigkeit oder Unwilligkeit, eine klare Grenze zwischen "Tolerierung" und "Zusammenarbeit" zu ziehen, und der anschließende Versuch, ihre Aussage noch vor Ausstrahlung zu dementieren, entlarven die fehlende Substanz hinter der harten Rhetorik des Parteivorsitzenden. Die journalistische Nachfrage deckt hier nicht nur eine Kommunikationspanne auf, sondern einen fundamentalen Mangel an strategischer Klarheit, der von lokalen und Landespolitikern bereits offen in Frage gestellt wird (POLITICO Berlin Playbook). #### Deutschlands ambivalente Rolle in der Klimapolitik Ein ähnliches Muster aus Anspruch und Wirklichkeit zeigt sich in der europäischen Klimapolitik, wo Deutschland eine paradoxe Doppelrolle einnimmt. Während die EU zur Klimakonferenz in Brasilien ohne geeinte Zwischenziele für 2035/40 reist, tritt Deutschland als Bremser statt als Motor auf – "Klimakonferenz in Brasilien - Warum die EU mit leeren Koffern anreist" (Der Tag, 21.10.2025). Die Bundesregierung untergräbt die europäische Verhandlungsposition gleich an mehreren Fronten: Sie drängt auf massive Subventionen für neue Gaskraftwerke in einem Umfang, den Brüssel für überdimensioniert hält, und fordert gleichzeitig eine Aufweichung des für 2035 beschlossenen Verbrenner-Ausstiegs. Diese Politik offenbart einen tiefen Widerspruch: Einerseits bekennt sich Deutschland zu ambitionierten Klimazielen, andererseits priorisiert es kurzfristige nationale Industrieinteressen und zementiert damit die Abhängigkeit von fossilen Strukturen. Die EU reist somit auch deshalb "mit leeren Koffern" an, weil ihr wirtschaftlich stärkstes Mitgliedsland internen Konflikten zwischen ökologischem Anspruch und industriepolitischem Pragmatismus den Vorrang gibt (Der Tag). #### Meta-Ebene: Der Diskurs der leeren Signifikanten Auf einer Meta-Ebene zeigt sich, wie der politische Diskurs von leeren Signifikanten dominiert wird. Der Begriff "Brandmauer" ist zu einer Chiffre geworden, die eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Ursachen für den Erfolg der AfD ersetzt. Die Debatte kreist um die Formalie der Zusammenarbeit, nicht um die Entwicklung einer politischen Vision, die den Nährboden für rechtsextreme Positionen austrocknen könnte. Ähnlich verhält es sich im Klimadiskurs: Begriffe wie "Technologieoffenheit" oder "Brückentechnologie" dienen dazu, industriepolitische Besitzstandswahrung als zukunftsorientierte Strategie zu framen . In beiden Fällen wird eine strukturelle Auseinandersetzung vermieden. Die Macht etablierter Industrien und regionaler politischer Realitäten führt dazu, dass die proklamierte Politik der Bundesebene an Glaubwürdigkeit verliert. Was fehlt, ist nicht der Wille zur Abgrenzung oder zum Bekenntnis, sondern eine durchdachte und belastbare Strategie, die über die nächste Wahlperiode hinausreicht.