## Die Dehnbarkeit der Brandmauer Die Debatte über den Umgang mit der AfD ist weniger ein Streit über Beschlüsse als ein Kampf um die Sprache. Im Zentrum steht nicht die Frage, *ob* eine rote Linie existiert, sondern die diskursive Arbeit daran, wie porös, dehnbar und situationsabhängig diese Linie eigentlich ist. ## "Pragmatismus" gegen "Prinzipien": Ein Kampf um den Deutungsrahmen Der Diskurs wird von einer zentralen Konfrontation strukturiert: Auf der einen Seite wird die Situation als Sachzwang gerahmt, auf der anderen als grundsätzliche Richtungsentscheidung. So inszeniert sich der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) als Vertreter der kommunalen "Handlungsfähigkeit". Er spricht von der Notwendigkeit, "sachbezogene Entscheidungen zum Wohle der Bürger" zu treffen. Diese Formulierung **entpolitisiert** eine Grundsatzfrage und rahmt sie als rein administrative Notwendigkeit. Dem stellt Sabine am Orde, stellvertretende Chefredakteurin der *taz*, die Deutung entgegen, dass "Pragmatismus" hier zur Chiffre für die Aufgabe von Prinzipien wird. Wo Kretschmer einen Zwang zur lokalen Problemlösung konstruiert, benennt am Orde eine aktive **Normalisierung** rechtsextremer Positionen. Der unvereinbare Kern liegt in der Frage: Ist die Kooperation auf kommunaler Ebene eine technische Notwendigkeit oder der erste Schritt zur politischen Legitimierung? ## Die Externalisierung der Verantwortung Eine wiederkehrende Operation ist die Verschiebung der Verantwortung weg von der eigenen Partei. Der *Focus-Online*-Kolumnist Ulrich Reitz bezeichnet die Debatte als "Berliner Sprechblase", die den "Wählerwillen im Osten" ignoriere. Damit **externalisiert** er die Ursache des Problems: Nicht die CDU habe ein Strategieproblem, sondern das politische Berlin ein Wahrnehmungsproblem. Die CDU erscheint so nicht als Akteurin, sondern als Reagierende auf Umstände, die von anderen – der Bundesregierung, den Wähler:innen – geschaffen wurden. Die Politikwissenschaftlerin Naika Foroutan wirkt dieser Lesart im Podcast "Spitzengespräch" des *Spiegel* entgegen. Sie warnt davor, AfD-Wähler:innen zu **objektivieren** und als homogene Masse zu behandeln, deren Votum quasi eine Naturgewalt darstellt. Foroutan argumentiert, dass die CDU durch ihre eigene Rhetorik den Resonanzboden für die AfD mitgestaltet und somit nicht nur reagiert, sondern selbst Verantwortung für die politischen Verhältnisse trägt. ## Das strategische Schweigen über den Begriff "Zusammenarbeit" Die Unschärfe zentraler Begriffe wird zur strategischen Ressource. Während der Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU eine "Kooperation" ausschließt, bleibt der Begriff selbst bewusst undeterminiert. In mehreren Formaten weichen CDU-Politiker:innen der Frage aus, ob dies auch eine Tolerierung oder projektbezogene Absprachen umfasse. Kretschmer formuliert exemplarisch: "Diese theoretische Frage stellt sich für uns in der Praxis nicht." Diese Antwort ist eine diskursive Operation, die die Definition selbst **zum Tabu macht**. Indem die Klärung als "theoretisch" abgewertet wird, wird die praktische Dehnbarkeit des Begriffs gesichert. Wo der Interviewer Markus Feldenkirchen im *Spiegel*-Podcast auf eine Definition drängt, sieht am Orde in der *taz* eine "gezielte strategische Ambiguität", die die Brandmauer von innen aushöhlt. Der Kontrast ist fundamental: Ist die begriffliche Leerstelle ein legitimer politischer Spielraum oder eine vorsätzliche Aufweichung demokratischer Grenzen? ## Was nicht gesagt wird In der parteistrategisch dominierten Debatte fehlt die Perspektive derjenigen, die von einer Normalisierung der AfD unmittelbar betroffen wären. Die Diskussion über "Handlungsfähigkeit" und "Wählerwille" wird geführt, ohne die Stimmen von Kulturschaffenden, zivilgesellschaftlichen Initiativen oder Menschen mit Migrationsgeschichte einzubeziehen, deren Arbeit und Sicherheit von politischen Mehrheiten abhängt.